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Andere Aufsätze

Hesse, Eberhard; Lichte, Thomas; Sturm, Eckart

Kooperation beim Ressourceneinsatz im Medizinsystem

in: Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 23 (07.06.1996), Seite A-1524
THEMEN DER ZEIT: Aufsätze

Einer der Gründe, warum das Gesundheitswesen in der Bundesrepublik Deutschland seine volle Effizienz noch nicht entfaltet, ist darin zu suchen, daß bisher nur die Möglichkeiten des Medizinsystems eingesetzt werden, ohne die umfangreichen Ressourcen der Patienten genügend zu mobilisieren. Dies erfordert eine eindeutige Aufgabenverteilung und eine verstärkte Kooperation zwischen Allgemein-, Gebiets-, Krankenhausärzten, Gesundheitsberufen und Gruppenselbsthilfe.


Krankheit entwickelt sich meist als langjähriger Prozeß (Mi-chael Balint) multifaktoriell, einerseits durch verschiedenartige äußere Schädigungen (Erreger, Noxen, Traumen, Konflikte, einschneidende Lebensereignisse), andererseits durch die "innere" Reaktion des Menschen aufgrund seiner genetischen Disposition und seiner lebenslangen Persönlichkeitsentwicklung.
Verlauf und Heilungschancen einer Krankheit sind somit abhängig sowohl von Art und Umfang der äußeren Schädigung (Spur 1) als auch von Reaktions- und Verhaltensweisen des Patienten (Spur 2). Ärztliche Diagnostik sollte deshalb in beiden "Spuren" (Brouwer) nach pathogenetischen Faktoren suchen, um den individuellen Hilfebedarf zu ermitteln. Den beiden Ursachenbereichen Spuren 1 und 2 entsprechen zwei Ressourcenbereiche, in denen der Arzt die für jeden Kranken indizierten therapeutischen Ansatzmöglichkeiten findet. Er setzt in der Praxis das Wissen über die Ressourcen der Medizin und die Informationen über die Ressourcen des Pa- tienten in spezielle und allgemeine Leistungen um (Tabelle 1). Spezialisten (Gebietsärzte) werden fast ausschließlich mit den Krankheiten ihres Fachgebietes konfrontiert. In der Behandlung dieser Erkrankungen können sie große Erfahrungen sammeln. Die Ressourcen der Gebietsärzte entstammen der gehäuften und wiederholten Beobachtung gleicher Krankheiten sowie bewährter Therapieverfahren. Sie werden durch wissenschaftliche Überprüfung validiert und in der Praxis als spezielle Leistungen angewendet (Spur 1).
Demgegenüber werden Hausärzte (Allgemeinärzte, allgemeinärztlich tätige Internisten und Pädiater) überwiegend von denselben Patienten wegen ganz unterschiedlicher Gesundheitsstörungen konsultiert (Eberhard Hesse, 1992). Dadurch lernen sie diese Patienten besonders gut kennen. Sie erwerben große Erfahrung, wie unterschiedlich jeder Patient "seine" Krankheiten bewältigt und welche eigenen Ressourcen er dafür einsetzt. Allgemeinärzte erarbeiten mit ihren Patienten die Fähigkeit, eigene Ressourcen zu mobilisieren (Spur 2).
Aufgrund der Langzeitbeobachtung und umfangreicher Informationen über ihre Patienten können Hausärzte die zur Krankheitsentstehung beitragenden Teilursachen aus der somatischen, psychischen, sozialen und menschlichen Dimension meist sehr gut einschätzen (Eckart Sturm, 1983). Aus diesen diagnostischen Ressourcen gewinnen sie Ansatzpunkte für eine maßgeschneiderte Individualtherapie, die dem Hilfebedarf des einzelnen ziemlich genau entspricht. Allerdings benötigen Hausärzte dazu die Mitwirkung gemeindenaher Netzwerke, anderer Gesundheitsberufe und der Gruppenselbsthilfe (Eberhard Hesse, 1996).
Über die Bedeutung der beiden sich ergänzenden Ressourcenbereiche und der Aufgabenverteilung haben weder Ärzte noch Patienten eindeutige Vorstellungen. Hier liegt auch ein Grund für die ungerichtete Anspruchshaltung der Patienten und die berufliche Unzufriedenheit unter den Ärzten. Wie der Ressourcenbereich 1 durch Spur 2 ergänzt und wie die Aufgaben besser verteilt werden könnten, ist in Tabelle 2 dargestellt.
Allgemeine Leistungen sind nicht auf Krankheiten, sondern auf den einzelnen Patienten bezogen. Sie sollen bei Gesunden und Kranken Gesundheitsbewußtsein wecken und ihnen helfen, gesundheitsfördernde Maßnahmen selbständig durchzuführen sowie eigene Ressourcen einzusetzen (Eberhard Hesse, 1986). "Das hohe Ausmaß der Selbsthilfe und der Hilfe im Familien- und Bekanntenkreis erscheint deshalb von Vorteil, weil auch ein noch so gut und breit ausgebautes Medizinsystem nicht in der Lage wäre, diesen Problemumfang zu bewältigen."*
Grundlegende allgemeine Leistungen werden von allen Ärzten erbracht:
l Kontakt- und Beziehungsaufbau zwischen Patient und Arzt;
l Wahrnehmung von Gesundheitsstörungen;
l Information des Patienten über gesundheitsrelevante Fragen.
Differenzierte allgemeine Leistungen erfordern Umfeld- und Langzeitkenntnisse über den Patienten; sie sind deshalb vorwiegend von Hausärzten zu erbringen:
l Motivierung zu Verhaltensänderungen;
l Auffinden und Bearbeiten von Widerstand;
l Hilfe zur Selbsthilfe;
l Unterstützung bei der Krankheitsbewältigung;
l Sicherstellung der Hauskrankenpflege;
l Begleitung beim Sterben.
Die "Instrumente" für die Vermittlung allgemeiner Leistungen sind Gespräch und Hausbesuch. Sie setzen eine patientenorientierte Grundeinstellung voraus: Verständnis, Empathie und offene Zuwendung zum Patienten. Der Haus- und Familienarzt entspricht damit den Erwartungen der Patienten auch im psychosozialen Bereich (Carol P. Herbert et al., 1986, Doris Weinhold, 1990).
Jeder Patient benötigt Hilfeleistung aus beiden Ressourcenbereichen in unterschiedlichem Umfang. Um sie dem individuellen Hilfebedarf entsprechend gezielt und richtig dosiert erbringen zu können, sind in einem arbeitsteiligen Gesundheitswesen gute Kooperation und genaue Absprache erforderlich. Dabei ist jedoch eine Effizienzsteigerung nur zu erreichen, wenn die Tätigkeit der Haus- und Gebietsärzte optimal ineinandergreift. In Zukunft werden beide auf Leistungen verzichten, die der andere aufgrund der besseren Voraussetzungen qualifizierter erbringen kann und zu denen dieser den besseren Zugang besitzt. Voraussetzung dafür sind Erarbeitung und Kompetenzvermittlung im Ressourcenbereich 2, definierte Aufgabenverteilung sowie funktionierende Kooperationsformen.
Anschrift für die Verfasser:
Dr. med. Eberhard Hesse
Facharzt für Allgemeinmedizin
Lehrbeauftragter für Allgemeinmedizin der Universität Münster
Bahnhofstraße 26
28816 Stuhr

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Wahl, Stephan

Kooperation: Schwer verständlich

in: Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 28-29 (15.07.1996), Seite A-1866 (Zu dem Beitrag "Kooperation beim Ressourceneinsatz im Medizinsystem" von Dr. med. Eberhard Hesse, Dr. med. Thomas Lichte und Prof. Dr. med. Eckart Sturm in Heft 23/1996)
SPEKTRUM: Leserbriefe

Der Artikel der Kollegen ist für mich etwas schwer verständlich, stellt er doch "ärztliches Allgemeingut" ganz verdreht, eben in bestimmten Spuren, dar. Eigentlich sollte man davon ausgehen, daß derartige Denkansätze als obsolet zu den Akten gelegt wurden.
Man gewinnt den Eindruck, als ob die Kollegen die gesamte Ärzteschaft auf "Spur 6" überholen wollen. Wenn sie dann auf "Spur 10" angelangt sind, müssen sie denen auf "Spur 1 und 2" Nachhilfe geben. Ich halte es eher mit dem Gelernten und betrachte den "gesamten Menschen", und dies gerade und auch als Facharzt. Nur so fühle ich mich in der Lage, therapeutische Maßnahmen für einen Patienten festzulegen.
In diesem Sinne grüße ich alle Ärzte der Bundesrepublik, quasi von "Spur X"!
Dr. med. Stephan Wahl, Walsroder Straße 8, 29614 Soltau

 


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Bierbaum, Dr. med.

Kooperation: Fachärzte, wacht auf

in: Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 28-29 (15.07.1996), Seite A-1865 (Zu dem Beitrag "Kooperation beim Ressourceneinsatz im Medizinsystem" von Dr. med. Eberhard Hesse, Dr. med. Thomas Lichte und Prof. Dr. med. Eckart Sturm in Heft 23/1996)
SPEKTRUM: Leserbriefe

In immer neuen Variationen versuchen Interessenvertreter des BDA die Position der Allgemeinmediziner in das Zentrum der Gesundheitsversorgung zu stellen.
In der Vergangenheit beklagte man zunächst die Honorarungerechtigkeit, den höheren Arbeitsaufwand, den Chipkartentourismus, eine mangelhafte Erfüllung der Kooperationspflicht seitens der Spezialisten usw. In jüngster Zeit aber werden die Vorstöße des BDA - vermutlich durch das GSG ermutigt, welches die Stärkung einer hausärztlichen Versorgung anregt - immer schärfer. Ich erinnere an den Case-Manager, der nach unserem Kollegen Kossow prädestiniert sei, die ökonomische Verantwortung bei der Verteilung der knappen finanziellen Mittel zu übernehmen, oder an das Hausarzt-Abo in gedanklicher Kombination mit Wahltarifen der Krankenkassen ähnlich den Privatversicherern, die den freien Zugang zu Fachärzten über das Mittel der Patientenbestechung aushöhlen sollen . . . [Der Artikel schickt sich an,] den Facharzt alter Prägung auf einen Zulieferer von Zutaten zum Leipziger Allerlei der Hausärzte zu reduzieren! . . .
Dr. med. Bierbaum, Walsroder Straße 8, 29614 Soltau
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Fischer, Hans-Walter

Kooperation: Ein weiterer Spaltungsversuch

in: Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 28-29 (15.07.1996), Seite A-1865 (Zu dem Beitrag "Kooperation beim Ressourceneinsatz im Medizinsystem" von Dr. med. Eberhard Hesse, Dr. med. Thomas Lichte und Prof. Dr. med. Eckart Sturm in Heft 23/1996)
SPEKTRUM: Leserbriefe

In diesem Artikel wird erneut der Versuch gemacht, die Spaltung der Ärzteschaft zu vertiefen. Es wird ausgeführt, daß "Spezialisten vorwiegend mit Krankheiten ihres Fachgebietes konfrontiert werden". Diagnostik und "bewährte Therapieverfahren" werden als "spezielle Leistungen" eingeordnet. Hausärzte wiederum "erwerben große Erfahrung, erarbeiten die Fähigkeit, eigene Ressourcen des Patienten zu mobilisieren". Nur sie können anscheinend "Teilursachen aus somatischen, psychischen, sozialen und menschlichen Dimensionen einschätzen".
Diese Aussagen werden pointiert in einer Tabelle zusammengefaßt, in der es heißt, daß Spezialisten dieselben Krankheiten, Allgemeinärzte dieselben Patienten behandeln.
Mit solchen Aussagen sollen wohl alle Gebietsärzte (ähnlich wie bereits der Laborarzt) zu Datenlieferanten reduziert werden. Ich weise die Unterstellung entschieden zurück, daß ich nur Krankheiten und nicht Patienten behandele. Therapieverfahren sind nie als "spezielle Leistungen" zu sehen, die willkürlich eingesetzt werden können. Jeder Therapeut muß seine Maßnahmen in das übrige Behandlungskonzept integrieren können. Wir Ärzte sollten doch zumindest in grundsätzlichen Bereichen der Beziehungen zu Patienten einig sein. Insofern halte ich den Artikel für wenig hilfreich, die gemeinsamen Probleme der Ärzteschaft zu bewältigen.
Dr. med. Hans-Walter Fischer, Windmühlenstraße 2, 27283 Verden

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Flenker, Ingo; Kloiber, Otmar

Grenzen des Wettbewerbs im Gesundheitswesen

in: Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 38 (20.09.1996), Seite A-2381
THEMEN DER ZEIT: Aufsätze

Die Klagen über Finanzierungsprobleme unseres Systems der gesundheitlichen Versorgung und über die sogenannte "Kostenexplosion" im Gesundheitswesen ziehen sich seit Jahren wie ein roter Faden durch die gesundheitspolitische Dikussion. Angesichts der wachsenden Bedeutung globaler Märkte gewinnt auch die Frage der Lohnnebenkosten, die Verteuerung des Faktors Arbeit durch steigende Sozialversicherungsbeiträge an Gewicht. Unbestritten ist: Wir sind mit dem Problem steigender Beitragssätze der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) konfrontiert. Die seit 1977 in immer kürzeren Intervallen und mit zunehmender Regelungsdichte vorgenommenen Kostendämpfungsmaßnahmen der Politik haben sich letztendlich nicht als stabilisierend erwiesen. Liegt das Heil nun, wie vielfach empfohlen, in der Ausrichtung des Gesundheitswesens auf "mehr Wettbewerb"?


Die aktuelle gesundheitspolitische Debatte wird als Grundsatzdebatte mit dem Anspruch geführt, ein langfristig tragfähiges Konzept zu entwickeln. Die Kostendämpfungsgesetzgebung der vergangenen Jahre und damit auch der staatliche Primat der Steuerung des Gesundheitswesens gelten als gescheitert. Das offensichtliche Versagen der Kostendämpfungspoli-tik führt nun allerdings nicht dazu, die Gründe für dieses Versagen zu analysieren und das Paradigma der sogenannten "Kostenexplosion" - die es in Wirklichkeit nie gegeben hat! - zu überprüfen. Tatsache ist: Der prozentuale Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttosozialprodukt blieb seit 1975 relativ konstant. Dies ist vor dem Hintergrund der rasanten medizinischen Fortschritte und der demographischen Entwicklung, die zu einer nachhaltigen Leistungsverdichtung und intensivierung in der gesundheitlichen Versorgung geführt haben, um so beachtlicher.
Als eigentliches Problem unserer sozialen Sicherungssysteme, vor allem aber der Krankenversicherung, erweisen sich nicht steigende Ausgaben, sondern vielmehr sinkende Einnahmen. Die Lohnquote am Volkseinkommen ging dramatisch zurück. Lag sie 1982 noch bei 76,9 Prozent, so war 1993 ein Wert von nur 72,1 Prozent zu verzeichnen. Ursache ist die hohe Arbeitslosigkeit und neuerlich auch das sinkende Individualeinkommen der Erwerbstätigen, die sich natürlich auch auf das Beitragsaufkommen auswirken. Das Schrumpfen der Finanzierungsgrundlagen der GKV treibt die Beitragssätze in die Höhe.
Hinzu kommt, daß die Gesundheits- und Sozialpolitik selbst über Jahre hinweg "Verschiebebahnhöfe" geschaffen und die Finanzkraft der Krankenversicherung systematisch ausgezehrt hat; erinnert sei beispielsweise an das 1989 im parteiübergreifenden Konsens verabschiedete Rentenreformgesetz oder an die Belastung der GKV durch versicherungsfremde Leistungen. Aus dieser Ursachenanalyse zieht die Gesundheitspolitik jedoch keineswegs den naheliegenden Schluß, daß mehr Geld ins System muß. Das Versagen der Kostendämpfungspolitik wird vielmehr allein als Versagen der "staatlich", genauer öffentlich-rechtlich geprägten Sozialversicherung interpretiert, woraus sich die vielstimmig erhobene Forderung nach weniger Staat und mehr Wettbewerb ableitet.

Wettbewerb keine Patentlösung
Der Wettbewerb, das freie Spiel der Kräfte mit einem sich weitgehend selbst steuernden System wird als Patentlösung auch für die Probleme des Gesundheitswesens angesehen. Der Staat will sich mehr und mehr aus der ordnungspolitischen Verantwortung zurückziehen und auf das Aufstellen von Leitlinien und "Spielregeln" beschränken, innerhalb derer die Beteiligten im Gesundheitswesen als "Marktteilnehmer" agieren. Kann dieses Modell auf das Gesundheitswesen übertragen werden? Für die Gesundheitspolitik offenbar keine Frage. Sie hat das Wettbewerbsprinzip unkritisch übernommen und Kritik daran gleichsam zum "Tabu" erklärt.
Drei Dogmen beherrschen gegenwärtig die politische Diskussion:
Nur der Wettbewerb kann das Gesundheitswesen preiswerter machen.
Sozialversicherungen können im Markt miteinander konkurrieren.
Der Wettbewerb im Gesundheitswesen soll "solidarisch" sein.
Unter Ausblendung des Problems einer schrumpfenden Finanzierungsbasis unseres Gesundheitswesens richtet sich die Diskussion auf reine Kostengesichtspunkte. Wettbewerb wird als geeignetes Mittel angesehen, um Kosten zu senken. Mehr Wirtschaftlichkeit ist das Ziel bei gleichzeitiger Sicherung der medizinischen Versorgungsqualität. In Wirklichkeit - insbesondere unter den Bedingungen einer fortgesetzten Ausgabendeckelung - treibt der Wettbewerb jedoch die an der gesundheitlichen Versorgung beteiligten Kräfte und Institutionen in einen ruinösen Konkurrenzkampf um Anteile an begrenzten Ressourcen. Der hieraus entstehende Druck birgt die Gefahr in sich, daß Abstriche bei der Qualität einer Leistung in Kauf genommen werden, um weiterhin am "Markt" konkurrieren zu können. Um wettbewerbsbedingten Qualitätsverlusten wirksam entgegentreten zu können, bedürfte es deshalb verstärkter Kontrollmechanismen, die jedoch wiederum einen kostentreibenden Effekt aufweisen würden. Auf eine kurze Formel gebracht: Mehr Wettbewerb verteuert letztendlich das Gesundheitswesen. Beispielhaft veranschaulicht wird dies durch das wettbewerbsorientierte Gesundheitssystem in den USA.
Wettbewerb ist dem Gesundheitswesen systemfremd: Er ist nur dort möglich, wo ein echter Markt existiert, mit Produzenten, die Waren anbieten, und Konsumenten, die Waren nachfragen. Die Gesetzmäßigkeiten des Marktes lassen sich indes nicht auf das Gesundheitswesen übertragen. Märkte werden durch freie Angebote und freie Kaufentscheidungen geprägt. Beides gibt es in unserem Gesundheitswesen nicht. Der Patient kann nicht frei darüber entscheiden, ob er krank wird oder nicht. Krankheit erfährt der Patient als kaum steuerbares Ereignis. Der Patient verfügt somit auch nicht über die "Konsumentensouveränität", die er ansonsten beim Kauf von Konsumgütern besitzt. Die Entscheidungen, die nach einem Herzinfarkt oder Schädel-Hirn-Trauma rational getroffen werden müssen, sind kategorisch von Kaufentscheidungen, zum Beispiel vom Erwerb von Konsumgütern, abzugrenzen. Gesundheitliche Versorgung ist grundsätzlich nicht wettbewerbsfähig. Auch die Kaufentscheidung für oder gegen eine Sozialversicherung wird wohl kaum jemals "Konsumentensouveränität" erlauben. Ein Blick auf den Markt der Privaten Krankenversicherung dürfte jede Erwartung deutlich dämpfen.
Das Wirtschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland ist aus gutem Grund als soziale Marktwirtschaft ausgestaltet, in der unternehmerischen (und individuellen) Freiheiten soziale Verpflichtungen bindend gegenübergestellt sind. Die Sozialgesetzgebung der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts, auf der auch unser heutiger Sozialstaat basiert, ist die politische Antwort auf die mit der Industrialisierung verstärkt aufkommenden und einen nachhaltigen gesellschaftlichen Wandel bewirkenden Prinzipien des Wettbewerbs und der Konkurrenz. Elementare soziale Risiken für den einzelnen wurden und werden somit solidarisch abgesichert. Weil soziale Verpflichtungen, sozialer Schutz nicht durch den Wettbewerb am Markt gewährleistet werden können, wurden die Sozialversicherungen gegründet und in einen wettbewerbsfreien Raum gestellt.
Wenn nun aber die Beteiligten des Gesundheitswesens in einen Wettbewerb geschickt werden, wie beispielsweise die gesetzlichen Krankenkassen angesichts der neuen Wahlfreiheit der Versicherten, so führt dies nur zu "Rosinenpickerei", der Ausgrenzung "schlechter Risiken" und damit einer Entsolidarisierung. Bereits bekanntgewordene Fälle, in denen Personen mit niedrigem Einkommen oder Rentner aufgefordert werden, die Kasse zu wechseln, werfen ein grelles Licht auf die Entsolidarisierungstendenzen, die dem Wettbewerb innewohnen. Wer einen "solidarischen" Wettbewerb für möglich hält, erliegt einer gefährlichen Illusion.


Leistungsangebot politisch festlegen
Zudem geraten bei einer Betrachtung der Versorgungsstrukturen des Gesundheitswesens unter reinen Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten schnell die tatsächlichen Leistungserfordernisse aus dem Blickfeld. Das Leistungsangebot der GKV darf nicht dem Wettbewerbsgedanken "geopfert" werden, sondern muß den Grundsätzen der Bedarfsgerechtigkeit und der freien Zugänglichkeit für alle Versicherten verpflichtet bleiben. Der wirtschaftliche Wettbewerb kann nicht das Steuerungsinstrument innerhalb unseres Gesundheitswesens sein, das die Verteilung und Inanspruchnahme von Leistungen regelt. Vielmehr bedarf es bei einer Begrenzung der zur Verfügung stehenden Ressourcen der politisch zu entscheidenden Festlegung, welche Leistungen solidarisch finanziert und vorgehalten werden sollen.
Aber auch innerhalb des Beziehungsgeflechtes zwischen Kostenträgern und Ärzteschaft entwickelt der Wettbewerb eine das bewährte System aushöhlende und erodierende Wirkung. Die geforderte Schaffung von mehr Vertragsfreiheit, besser geläufig unter dem griffigen Bild des "Einkaufsmodells", bewirkt keineswegs mehr Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen; Vertragsfreiheit verschärft unter dem Deckel der Budgetierung nur den Druck innerhalb des Systems, beschwört damit Leistungsrationierungen und Qualitätseinbußen herauf und bedeutet das Ende der freien Arztwahl.
Die nicht zu leugnenden Probleme der Finanzierung unseres Gesundheitswesens sind nicht mit den Prinzipien wirtschaftlichen Wettbewerbs, sondern nur mittels einer Verbesserung der Einnahmesituation wirksam zu lösen.
Als gangbarer Weg bietet sich die Ausweitung der Beitragsbemessungsgrundlagen der GKV an. Nichtlohngebundene Einkommensarten, die in immer höherem Maße zum Individualeinkommen beitragen, werden derzeit bei der Verteilung sozialer Lasten nicht berücksichtigt. Hier könnte man ebenso ansetzen wie bei der Pflichtversicherungsgrenze und der Beitragsbemessungsgrenze. Nachdrücklich gewarnt werden muß allerdings vor dem Modell eines steuerfinanzierten Gesundheitswesens. Das System der gesundheitlichen Versorgung könnte allzuleicht in die Abhängigkeit politischer Beliebigkeit und politischer Interessenlagen geraten, mit der naheliegenden Folge, daß nicht mehr der tatsächliche Versorgungsbedarf, sondern politisches Kalkül zum Steuerungselement wird. Nur die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung durch Beiträge garantiert, daß die Mittel direkt und ohne Zugriff durch die Politik für die gesundheitliche Versorgung eingesetzt werden.
Aus den Überlegungen zu den Grenzen des Wettbewerbs im Gesundheitswesen lassen sich die folgenden drei Thesen entwickeln:
Das System der Beitragsbemessung in den Sozialversicherungen muß im Sinne einer Verbreiterung der Finanzierungsgrundlagen grundsätzlich reformiert werden. Bei der Beitragsbemessung sind alle Einkünfte, also nicht nur die lohngebundenen, zu berücksichtigen. Sowohl die Pflichtversicherungs- als auch die Beitragsbemessungsgrenze müssen neu gestaltet werden.
Das Leistungsangebot der Sozialversicherung muß den jeweiligen Zielen entsprechen. Die Ausgabensteuerung in unserem Gesundheitswesen darf weder von Marktmechanismen noch von politischen Opportunitäten - z. B. versicherungsfremden Leistungen - abhängen, sondern muß allein durch die Notwendigkeit und Angemessenheit von Leistungen im Sinne des abzudeckenden Lebensrisikos bestimmt werden.
Nicht der finanzielle Wettbewerb, sondern ein qualitativer Wettbewerb, der den Erhalt und die weitere Verbesserung der Patientenversorgung zum Ziel hat, ist für die Entwicklung des Gesundheitswesens notwendig.
Anschrift für die Verfasser:
Dr. med. Ingo Flenker
Präsident der Ärztekammer
Westfalen-Lippe
Wittener Straße 56
45549 Sprockhövel

 

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Beske, Prof. Dr. med. Fritz; Hallauer, Dr. med. Johannes F.; Kern, Axel Olaf; Dipl.-Betriebswirt

Reform des Gesundheitswesens: Die Meinung der Ärzte

in: Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 36 (05.09.1997), Seite A-2245
THEMEN DER ZEIT: Aufsätze

Ergebnisse einer Leserumfrage (I); Thema heute: "Rationalisierung"
Fritz Beske, Johannes F. Hallauer, Axel Olaf Kern
Auf die Leserumfrage "Wo würden Sie reformieren?" (Heft 44/1996) haben mehr als 4 500 Leserinnen und Leser geantwortet. Gefragt war nach den Lesermeinungen zu den Themen Rationalisierung, Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung, Selbstbeteiligung in der Gesetzlichen Krankenversicherung, Rationierung. Das Deutsche Ärzteblatt und das Institut für Gesundheits-System-Forschung Kiel, die das Projekt durchführen, danken allen Ärztinnen und Ärzten, die sich beteiligt haben. Die Auswertung der Leserumfrage ist von dem Institut für Gesundheits-System-Forschung Kiel übernommen worden. Das Ergebnis der Auswertung wird beginnend mit diesem Heft veröffentlicht. Eine Gesamtauswertung mit ergänzenden Informationen erscheint zu einem späteren Zeitpunkt in der Schriftenreihe des Kieler Instituts. DÄ
An der Leserumfrage zur Reform des Gesundheitswesens haben sich 951 Ärztinnen und 3 575 Ärzte, insgesamt 4 575 Personen, beteiligt. 49 Antworten waren ohne Geschlechtsangabe. Damit betrug der Anteil der Ärzte 79 Prozent und der Anteil der Ärztinnen 21 Prozent der Antworten.
Viele haben von dem Angebot Gebrauch gemacht, über den angebotenen Platz hinaus zu antworten. In vielen Antworten wurde expressis verbis die Möglichkeit begrüßt, als Individuum zur Weiterentwicklung unseres Gesundheitswesens Stellung zu nehmen.
Rund 11 Prozent der Antworten entfallen auf die Altersgruppe der unter 35jährigen und rund 13 Prozent auf die Altersgruppe der 35- bis unter 40jährigen. Die 40- bis unter 50jährigen nehmen einen Anteil von 33,4 Prozent ein. 29 Prozent der Antworten kamen von Ärzten in der Altersgruppe von 50 bis unter 60 Jahren. Die 60- bis unter 66jährigen bilden einen Anteil von 6,5 Prozent, die 66-jährigen und älteren von 7,0 Prozent. Sowohl Männer als auch Frauen sind in den Altersgruppen bis unter 40 Jahre unterrepräsentiert. Die übrigen Altersgruppen dagegen sind überrepräsentiert. !
l Insgesamt zeigt sich, daß sich im wesentlichen berufstätige Ärztinnen und Ärzte im Alter zwischen 40 und 65 Jahren an der Umfrage beteiligten. Rund 70 Prozent der Antworten sind von Personen dieser Altersgruppe.
Mit 61 Prozent Antworten von niedergelassenen Ärzten liegt der Anteil dieser Gruppe (Grafik 1) deutlich über dem Anteil der nicht niedergelassenen Ärzte von rund 36 Prozent. Die Zahl der im Krankenhaus tätigen Ärzte entspricht rund 48 Prozent; Krankenhausärzte sind jedoch nur 24 Prozent der Teilnehmer an der Umfrage. Die höhere Beteiligung von niedergelassenen Ärzten könnte sich damit erklären, daß diese Arztgruppe von den Veränderungen im Gesundheitswesen stärker betroffen ist als Ärzte in anderen Tätigkeitsbereichen. Außerdem ist die Beteiligung jüngerer Ärzte an der Leserumfrage relativ gering. Jüngere Ärzte sind jedoch überwiegend im Krankenhaus tätig.
Hinsichtlich der Fachrichtung der niedergelassenen Ärzte ergibt sich ein weitgehend repräsentatives Bild, bezogen auf die Verteilung der fachärztlichen Praxen in Deutschland. Nachfolgend die Meinungen der befragten Ärzte zum Themenkreis Rationalisierung. In den später folgenden Beiträgen werden die Lesermeinungen zu den Themen
l Leistungskatalog
l Selbstbeteiligung
l Rationierung vorgestellt.
Gibt es Rationalisierungsreserven?
Nach Auffassung von 94,9 Prozent der Antwortenden gibt es Rationalisierungspotentiale im Gesundheitswesen. Lediglich 4,6 Prozent verneinen diese Frage (Grafik 2). Diese Auffassung zeigt sich in allen Altersgruppen. Grafik 3 enthält die positiven Antworten nach Altersschichtung. Insgesamt ergeben sich nur geringe Unterschiede. Die höchsten Werte zeigen mit über 96 Prozent die unter 35jährigen und die 50- bis 59jährigen Ärzte, die niedrigsten mit 92 Prozent die Altersgruppe 66 und älter. Der Tätigkeitsbereich der Ärzte hat nur einen geringen Einfluß auf die Auffassung zu Rationalisierungsreserven. Die Antworten schwanken lediglich zwischen 94,3 Prozent für niedergelassene Ärzte und 96,9 Prozent für Ärzte, die in der Pharmaindustrie tätig sind.
1 Wie groß sind die Rationalisierungsreserven?
Ob Rationalisierungsreserven groß, wesentlich oder nur gering sind, wird differenziert beantwortet. Grafik 4 stellt die Einschätzung über das Vorhandensein von Rationalisierungsreserven dar. 10,6 Prozent sehen nur geringe oder überhaupt keine Rationalisierungsreserven. Die meisten Antworten (64,4 Prozent) schätzen die Rationalisierungsreserven als wesentlich ein, ein Viertel sieht große Rationalisierungsreserven. Der Anteil der "gering" Antwortenden ist für Ärztinnen und Ärzte etwa gleich. Ärzte sehen jedoch mit 26,7 Prozent große Rationalisierungsreserven häufiger als Ärztinnen, die nur zu 18,1 Prozent die Rationalisierungsreserven als groß bezeichnen.
Die Einschätzung der Rationalisierungsreserven nach Altersgruppen zeigt für die Altersgruppen der 40- bis 49jährigen und der 50- bis 59jährigen mit 26,5 Prozent die häufigste Einschätzung großer Rationalisierungsreserven. Insgesamt zeigen die Antworten keine wesentlichen Unterschiede nach Altersgruppen.
Je nach Tätigkeitsbereich ergeben sich unterschiedliche Antworthäufigkeiten für die Einschätzung von Rationalisierungsreserven (Grafik 5). Ärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst und niedergelassene Ärzte geben große Rationalisierungsreserven mit 31,7 beziehungsweise 26,4 Prozent am häufigsten an. Ärzte in Rehabilitations- und Kureinrichtungen und Krankenhausärzte sehen mit 16,5 beziehungsweise 20,8 Prozent große Rationalisierungsreserven seltener. Die Einschätzung geringer oder nicht vorhandener Rationalisierungsreserven geben Ärzte aus der Pharmaindustrie und dem Öffentlichen Gesundheitsdienst mit 6,5 beziehungsweise 9,6 Prozent an. Dies ist geringer als die Einschätzung niedergelassener Ärzte, die zu 11 Prozent nur geringe Rationalisierungsreserven sehen. Bei den Antworten der niedergelassenen Ärzte fällt auf, daß nur 8,7 Prozent der Allgemeinärzte Rationalisierungsreserven als gering oder als nicht vorhanden betrachten, während die anderen Gebietsärzte häufiger nur geringe oder keine Rationalisierungsreserven sehen (10,3 bis 23,2 Prozent). Umgekehrt sehen Allgemeinärzte mit 28,2 Prozent überdurchschnittlich häufig große Rationalisierungsreserven. Wo stecken die Reserven?
Grafik 6 stellt die Häufigkeit der Antworten für verschiedene Bereiche des Gesundheitswesens getrennt nach Geschlecht dar. Am häufigsten wird mit 81,2 Prozent das Kurwesen genannt. Im Krankenhaus sehen 76,8 Prozent Rationalisierungspotentiale. Die dritthäufigste Nennung ist mit 65,8 Prozent die Arzneimittelversorgung. Die ambulante Versorgung wird von 54,7 Prozent genannt. Der Bereich der Heilmittel wird von der Hälfte angegeben. Hilfsmittel rangieren mit 44,9 Prozent am unteren Ende. Bei der Rehabilitation werden mit 44,5 Prozent die geringsten Rationalisierungspotentiale vermutet. Die Rangfolge Kurwesen, Krankenhaus, Arzneimittelversorgung und ambulante Versorgung ist bei Ärztinnen und Ärzten identisch. Ärztinnen haben auf diese Frage, die Mehrfachantworten zuließ, durchschnittlich weniger Bereiche genannt als Ärzte. Während Ärzte zu der Frage nach den verschiedenen Bereichen mit Rationalisierungspotentialen durchschnittlich 4,5 Angaben gemacht haben, wurden von Ärztinnen durchschnittlich nur vier Nennungen abgegeben.
1 Angaben nach Alter
Je nach Alter ergeben sich Unterschiede.
Das Kurwesen wird mit durchschnittlich 81,3 Prozent von allen Altersgruppen am häufigsten als ein Bereich mit Rationalisierungspotentialen gesehen. Die Altersgruppen der Ärzte unter 40 Jahren nennen das Kurwesen zwischen 76,3 und 79 Prozent geringfügig seltener als Ärzte von 50 bis 65 Jahren, von denen zwischen 83,3 und 83,7 Prozent diesen Bereich nennen.
Das Krankenhaus wird von allen Altersgruppen am zweithäufigsten genannt. Zwischen 65,8 und 75,3 Prozent der Ärzte über 60 Jahre nennen diesen Bereich als Rationalisierungspotential, Ärzte zwischen 35 und 50 Jahren mit 78,5 bis 79,3 Prozent.
Von allen Altersgruppen wird die Arzneimittelversorgung an dritter Stelle genannt, von 68,4 bis 69,9 Prozent der jüngeren Ärzte unter 40 Jahren häufiger als von Ärzten über 60 Jahre mit 52,5 bis 62 Prozent.
Die ambulante Versorgung folgt bei allen Altersgruppen an vierter Stelle. Die Altersunterschiede sind hier nur gering ausgeprägt. Bei Heil- und Hilfsmitteln, die je nach Altersgruppe auf Rang fünf bis sieben liegen, zeigt sich, daß jüngere Ärzte beide Bereiche seltener nennen als Ärzte zwischen 40 und 65 Jahren. Die Rehabilitation wird von allen Altersgruppen an sechster oder siebenter Stelle genannt, von Ärzten unter 40 Jahren mit 37 bis 42 Prozent seltener als von Ärzten über 50 Jahre mit 45,3 bis 47,0 Prozent.
1 Angaben nach Tätigkeitsbereich
Von Interesse sind die Angaben zu Rationalisierungsbereichen nach Tätigkeitsgebiet des antwortenden Arztes.
Das Kurwesen wird am häufigsten von Internisten und anderen Gebietsärzten genannt, gefolgt von Krankenhausärzten und Allgemeinärzten. Ärzte aus Rehabilitations- und Kureinrichtungen nennen diesen Bereich seltener. Im Krankenhaus werden Rationalisierungspotentiale vor allem von Ärzten in der Pharmaindustrie gesehen, gefolgt von Allgemeinärzten und anderen Gebietsärzten. Krankenhausärzte und Ärzte in Rehabilitations- und Kureinrichtungen und im Öffentlichen Gesundheitsdienst sehen Rationalisierungspotentiale im Krankenhaus seltener.
Die Arzneimittelversorgung wird vornehmlich von Internisten und Ärzten in Rehabilitations- und Kureinrichtungen sowie von Ärzten im Öffentlichen Gesundheitsdienst genannt. Allgemeinärzte, Ärzte der Pharmazeutischen Industrie und Krankenhausärzte sehen hier weniger Rationalisierungspotentiale.
Die ambulante Versorgung wird von Ärzten aus dem Rehabilitations- und Kurbereich, von Krankenhausärzten und von Ärzten im Öffentlichen Gesundheitsdienst häufiger genannt als von Allgemeinärzten, Internisten und anderen niedergelassenen Gebietsärzten. Bei Heilmitteln werden Rationalisierungspotentiale vor allem von Internisten und Allgemeinärzten genannt. Andere niedergelassene Gebietsärzte und Krankenhausärzte nennen diesen Bereich seltener. Für Hilfsmittel ergibt sich ein ähnliches Bild.
Die Rehabilitation, insgesamt an letzter Stelle genannt, wird vor allem von Internisten aufgeführt. Krankenhausärzte und nichtinternistische niedergelassene Gebietsärzte nennen diesen Bereich nicht so häufig. Fazit: Es gibt noch Rationalisierungsreserven
Die überwiegende Mehrheit der Ärzte, die sich an der Leserumfrage beteiligt haben, ist der Auffassung, daß Rationalisierungsreserven im Gesundheitswesen bestehen. Zweifel am Vorhandensein von Rationalisierungsreserven haben weniger als fünf Prozent. Die Rationalisierungsreserven werden dabei von zwei Dritteln als wesentlich, von einem weiteren Viertel sogar als groß eingeschätzt. Der Rationalisierung im Gesundheitswesen kommt damit nach dem Ergebnis dieser Leserumfrage für die Reform unseres Gesundheitswesens eine herausragende Bedeutung zu. Diese Einschätzung wird von allen ärztlichen Altersgruppen sowie von Ärzten aus den verschiedensten Tätigkeitsbereichen ohne wesentliche Unterschiede geteilt. Differenziert fällt die Nennung von Bereichen aus, in denen Rationalisierungsreserven gesehen werden. Mit großer Übereinstimmung werden, unabhängig von den Kostenanteilen, welche die verschiedenen Bereiche im Gesundheitswesen beanspruchen, an erster Stelle das Kurwesen und an zweiter Stelle das Krankenhaus genannt. Der Rehabilitationsbereich, der in der öffentlichen Diskussion häufig zusammen mit dem Kurwesen genannt wird, steht erst an siebenter Stelle. Rationalisierungspotentiale in der Arzneimittelversorgung werden mit zwei Drittel der Antwortenden an dritter Stelle genannt. Die Arzneimittelversorgung wird häufiger als Möglichkeit von Rationalisierungsreserven gesehen als die Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln. In der ambulanten Versorgung wird dagegen nur von etwa der Hälfte ein Einsparpotential gesehen, seltener als bei Kuren, Krankenhaus und Arzneimitteln. Insgesamt zeigen die Antworten für das Kurwesen eine breite Übereinstimmung in der Einschätzung von Rationalisierungsmöglichkeiten, gefolgt von den Bereichen Krankenhaus, Arzneimittel und ambulante Versorgung.
Die Altersverteilung der Antworten zu Rationalisierungsmöglichkeiten in verschiedenen Bereichen läßt erkennen, daß ältere Ärzte das Krankenhaus und die Arzneimittelversorgung seltener nennen als der Durchschnitt der Ärzte. Bei jüngeren Ärzten werden Rationalisierungspotentiale im Bereich der Heil- und Hilfsmittel sowie im Rehabilitations- und Kurwesen unterdurchschnittlich häufig genannt. Hier dürfte die jeweilige Berufserfahrung für diese Bereiche eine Rolle spielen.
Die Auswertung der Antworten nach Tätigkeitsbereichen der Ärzte zeigt, daß Rationalisierungspotentiale vor allem in Bereichen gesehen werden, in denen der Antwortende nicht selbst tätig ist. So sehen niedergelassene Ärzte Rationalisierungspotentiale im Krankenhaus häufiger als die dort tätigen Ärzte. Umgekehrt geben Krankenhausärzte Rationalisierungspotentiale häufiger in der ambulanten Versorgung an, als dies bei niedergelassenen Ärzten der Fall ist. Die im Kurwesen tätigen Ärzte sehen am wenigsten Rationalisierungspotentiale im Kurwesen. Für niedergelassene Ärzte, Krankenhausärzte und Ärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst steht das Kurwesen dagegen an erster Stelle für Rationalisierungspotentiale. Das Krankenhaus wird sowohl von niedergelassenen Ärzten als auch von Krankenhausärzten an zweiter Stelle, die Arzneimittelversorgung an dritter Stelle genannt. Die ambulante Versorgung steht bei niedergelassenen Ärzten an fünfter Stelle, bei allen anderen Arztgruppen an vierter Stelle.
Der Rationalisierung kommt bei den Reformbemühungen im Gesundheitswesen nach dem Ergebnis dieser Leserumfrage eine besondere Bedeutung zu.


Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1997; 94: A-2245-2249
[Heft 36]


Anschrift der Verfasser
Prof. Dr. med. Fritz Beske, MPH
Dr. med. Johannes F. Hallauer
Axel Olaf Kern, Dipl.-Volkswirt, Dipl.-Betriebswirt (BA)
Institut für Gesundheits-SystemForschung Kiel
Weimarer Straße 8
24106 Kiel

 

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Baier, Prof. Dr. med. Horst

Gegen Staats- und Körperschaftszwang: Ärzte und Patienten als Kunden des Gesundheitswesens

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 15 (10.04.1998), Seite A-876
THEMEN DER ZEIT: Aufsätze

Das Gesundheitssystem steckt im Dilemma zwischen Verknappung der Finanzen und Ausweitung des Leistungsangebots. Die Zukunft gehört der berufs- und betriebsrechtlichen Freiheit zu neuen Organisationsund Leistungsformen.
Das Dilemma des Sozialstaates ist heute, daß einerseits die Staatsverschuldung abgebaut und die Verwaltung verschlankt werden soll. Andererseits ist aber die Medizin- und Pharmaforschung durch industriepolitische und finanzwirtschaftliche Maßnahmen zu fördern, die Wirtschaftskraft und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu stützen, die Wohlfahrt und Wohlbefindlichkeit der Bürger zu steigern. Da der Staat jedoch bei den sozialen Sicherungssystemen traditionellen Modellen folgt, löst er das Dilemma nicht. Er gerät vielmehr unter den Druck der Folgen seiner Fehlsteuerungen wie der Wirkungen der Marktkräfte.
Der Staat, interpretiert als Sozialstaat, betreibt seit 20 Jahren die Rationalisierung des Gesundheitswesens mit der Normierungskraft seiner Gesetze, mit der Regulierungsmacht seiner Sozial- und Gesundheitsverwaltung - einschließlich seiner parastaatlichen Exekutivorgane in Gestalt der Körperschaften der Kassenärzte und Krankenkassen. Unter dem Diktat der Maastricht-Kriterien ist der Staat gehalten, hier die Staatsverschuldung abzubauen und dort Qualitätsverbesserungen zur Wohlfahrtssteigerung zu fördern. Finanzwirtschaftlich ist seine Lösung gegenwärtig, den Konsum über die Mehrwertsteuer abzuschöpfen und die einkommensstärkeren Mittelschichten zu belasten, vorneweg die freien Berufe. Steuerlich entlastet werden dagegen die einkommensschwächeren Sozialschichten - zur Erhaltung des sozialen Friedens, und die Unternehmen - zur Stärkung ihrer europäischen und globalen Wettbewerbsfähigkeit.
Gleichwohl wird er dem Dilemma seiner Wirtschafts- und Technikabhängigkeit nicht entkommen, das ihn in die Leistungskontrolle und Ausgabenminderung der immer teureren Gesundheitsgüter hineintreibt und ihn zur Qualitätssteigerung der immer besseren Gesundheitsangebote antreibt. Die Folge ist faktisch eine zunehmende Rationierung der Leistungen auf legislativem, administrativem und nicht zuletzt massenmedialem Weg. Sie soll das Wachstum des Sozialbudgets bremsen und es doch offenhalten für den Finanzbedarf des medizinischen Fortschritts.
Zwang zur Rationalisierung und Rationierung
Die Körperschaften des Gesundheitswesens versuchen das Dilemma zwischen der Verknappung der Finanzmittel und der Ausweitung des Leistungsangebots durch Qualitätssicherung und -management zu lösen. Durch gesetzliche Vorschriften und Verwaltungsauflagen beschränkt der Staat jedoch hier die Einnahmen der Krankenkassen und begrenzt dort ihre Leistungsaufgaben. Bei den Vertragsärzten löst er Kontrollsanktionen und damit Bürokratisierungsschübe aus. Sie führen nicht zur geforderten ständigen Qualitätsverbesserung, sondern führten zunächst zum Preisverfall medizinischer Leistungen und führen heute zu Qualitätsverringerungen (zumindest in der Gesetzlichen Krankenversicherung). So kippt die Rationalisierung in die Rationierung - als Folge des Staatsversagens und der "Körperschaftsstarre" inmitten des medizin-wissenschaftlichen und medizintechnischen Fortschritts.
Die Körperschaften des Gesundheitswesens haben - auf der einen Seite - unter dem Rationalisierungszwang das Wirtschaftlichkeitsgebot gezwungenermaßen zur obersten Maxime gemacht. Die gesetzlichen Krankenkassen benutzen als parastaatliche Behörden ihre Organisationsgewalt gegenüber ihren Partnern im ambulanten und stationären Leistungssektor, um die Leistungen zu rationalisieren und die Ausgaben zu rationieren - zumal ihre Einnahmen unter dem Druck der Wirtschaftsverbände und durch die staatliche Gesetzgebung selbst gedrosselt werden. Und doch geraten sie, genau wie der Staat, in das Dilemma zwischen Verknappung der Finanzmittel und medizinisch-technischem Fortschritt in Diagnostik und Therapie, in Prävention und Rehabilitation und damit auch neuen Leistungsangeboten. Die Kassen versuchen, diesen Widerspruch durch die Verbindung von Rationierung der Ausgaben und Qualitätsverbesserung der Leistungen im Zuge von Qualitätssicherungsprogrammen zu lösen. Die Frage bleibt aber, ob sie hierfür die geeignete Organisationsform und das nötige flexible Management haben. Was heute als Marketing bei den Krankenkassen bezeichnet wird, ist erst der Anfang einer neuen Beweglichkeit durch Wettbewerb mit einem nutzen-kosten-optimierten, qualitätsvollen Leistungsangebot für die Versicherten.
Bei den Körperschaften der Vertragsärzte hat sich - auf der anderen Seite - die ursprünglich die Selbstverwaltung stärkende Gesamtvergütung der Versorgung zu einem politischen Steuerungsinstrument verwandelt. Die Honorarverteilung steht vielerorts unter dem Diktat einer Ideologie der Vorrangigkeit der Primärversorgung mitsamt der Verdrängung der freiberuflichen Fachärzte. Die nächste Stufe des gesundheitsideologischen Dirigismus ist gegenwärtig die Umdrehung des Honorarverteilungsmaßstabes in ein finanzielles Rationierungsinstrument, das die Preise medizinischer Leistungen verfallen und ihre Qualität sinken läßt. Gleich, ob die globalen oder arztgruppenbezogenen Budgetierungen zu arztindividuellen oder zu patientenbezogenen Pauschalierungen zusammenschrumpfen - ein solches Buchhalterideal, das heute die Kassenärztlichen Vereinigungen weitgehend beherrscht, bringt jedenfalls keine bessere "Fortschritts"medizin. Ergebnis ist statt dessen eine entgeltbilligere, mengensortierte, aber verwaltungsteurere "Bedarfs"medizin. Der Korporatismus im Gesundheitswesen führt immer tiefer in eine sozialistische Zentralverwaltungs- und Bedarfsdeckungswirtschaft - paradox inmitten eines liberalisierten Binnenmarkts der Europäischen Union.
Bedarfsberechnete Inanspruchnehmer
Bisher war vom Staat und von den Körperschaften der Krankenkassen und der Kassenärzte die Rede, nicht jedoch von den Nachfragern und Anbietern von medizinischen Leistungen. Wir haben uns angewöhnt, von Systemen der sozialen Sicherung zu sprechen mit ihren Zwangsklientelen der Sozialversicherten sowie mit ihren verbands- und kammerorganisierten Leistungsanbietern, hier den zwangskorporierten Kassenärzten. Dabei übersehen wir allzuleicht, daß diese Sozialleistungsorganisation des Verbände- und Körperschaftsstaates im Kern und in der Wirkung marktfeindlich ist. Nicht der Kassenversicherte als "Kunde", als freier Konsument mit individuellen Nachfragebedürfnissen, ist der Orientierungspunkt, sondern der bedarfsberechnete Inanspruchnehmer des Sozialbudgets. Nicht der Kassenarzt als "Kunde" seiner genossenschaftlichen Dienstleistungsorganisation Kassenärztliche Vereinigung ist der Ausgangspunkt, sondern der budgetorientierte Verteilungsagent der KV-Honorarmasse.
Widerspruch zwischen Rationierung und Qualitätssteigerung
Die Versichertenklientele sind der Motor, der den Sozialstaat und seine Verbände in den Widerspruch zwischen Rationierung aus Finanzknappheit und Qualitätssteigerung durch Fortschritts- und Erwartungsspiralen treibt. Der Wertewandel hat die Bürger ergriffen und neue Erwartungen und Bedürfnisse geschaffen. Der vielbesprochene Hedonismus der wert- und sozialgewandelten Gesellschaft ist selbst widersprüchlich: genußfreudige Selbstverwirklichung hier und risikoängstliche Sozialsicherheit dort. Der Sozialversicherte ist längst mit seinen individuellen Erwartungen und Bedürfnissen auf den Markt der Gesundheitsgüter hinausgetreten. Real bleibt er aber noch unter der Kuratel der Körperschaften.
Neue Chance für den freien Arztberuf
Ist also auf der Seite des Kassenpatienten eine Entwicklung von der Sozialisierung der Krankheit zur Reprivatisierung der Gesundheit im Zeichen neuer Individualität und Pluralität der Lebensführung zu verzeichnen, so finden wir auf der Seite des Kassenarztes eine Reprofessionalisierung. Seine genossenschaftliche Kollektivierung durch den Leipziger Verband, später durch die öffentlich-rechtlichen Kassenärztlichen Vereinigungen, war notwendig: erstens wegen der Verbandsparität gegenüber den mächtigen Krankenkassen, zweitens zwecks Sicherstellung des Versorgungsauftrages, drittens zur Finanzierung des medizinischen und technischen Fortschritts. Die Folgen sind heute hinderlich. Kollektivverträge verführen zur Kostendämpfung und führen nicht zur Nutzenoptimierung im Sinne einer Qualitätsverbesserung. Der Sicherstellungsauftrag ist auf die Herstellung gleicher Lebensverhältnisse mittels ausreichender und zweckmäßiger Versorgung gerichtet, weshalb dieser den individualisierten Lebenslagen und pluralisierten Lebensstilen mitsamt der je persönlichen Risikoprofile und -bewältigungen nicht mehr gerecht wird.
Individualisierung und Pluralisierung der Kundenwünsche
Aus den Kassenhaushalten läßt sich der medizinische Fortschritt nicht mehr bezahlen. Zahlreiche neue Methoden und Verfahren würden das Budget der Kassen sprengen und die Honorarbudgets der KVen aushöhlen, zumal unter dem Spardiktat des Staates. Der Weg jedoch der Industrialisierung, nämlich immer mehr und billigere Massengüter zu erzeugen und zu vertreiben, ist einem Dienstleistungs- und Kommunikationsberuf wie dem ärztlichen versperrt. Verstärkt wird dies durch die Individualisierung und Pluralisierung der Kundenwünsche.
Einem solchen Trend in der Konsumentennachfrage, auch nach Gesundheitsleistungen, kommt die Institution des freien Berufes ideal entgegen. Ihr stabiler Kern, vorneweg bei den Ärzten, ist die von Personen erbrachte und auf Personen bezogene Dienstleistung; die Dynamik ständiger und nachhaltiger Qualitätsverbesserung läuft über die Faktoren Wissen, Leistung, Mitteilung und Qualitätsstandard. Alle vier Faktoren erfordern die weiterlaufende fachliche Spezialisierung, die technische und organisatorische Rationalisierung, Kommunikation und Kooperation mit seinen "Kunden" und Kollegen, schließlich eine standardisierte Qualitätsauswertung. Es ist deshalb widersinnig, gerade die Ärztinnen und Ärzte, ob in freier Praxis oder in der Klinik, unter ein Spardiktat mit Leistungsrationierung und Preisverfall zu setzen, davon die Primärversorgung profitieren und dafür die Allgemeinmedizin expandieren zu lassen. Dies ist nur aus einer Perspektive möglich, die Medizin versteht als Bedarfsdeckung national festgeschriebener Bedürfnisse, als eine Art Buchhaltung der Volksgesundheit - und nicht als dynamischen Markt mit Angebot und Nachfrage von Leistungen gemäß dem medizinisch-technischen Fortschritt.
Die Zukunft der Ärzteschaft liegt nicht in der Abwehr von neuen Organisations-, Kooperations- und Kommunikationsformen, womöglich mit Beharren auf die überkommene Ein-Mann-Praxis. Die Zukunft gehört der berufs- und betriebsrechtlichen Freiheit zu neuen Organisations- und Leistungsformen, etwa in fachübergreifender Gemeinschaftspraxis oder Vernetzung mit der stationären Versorgung. Das Partnerschaftsgesellschaftsgesetz hat den freien Berufen hier eine neue Beweglichkeit gegeben. Aber vergessen wir nicht den ersten Qualitätsfaktor eines freiberuflichen Arztes: nämlich Aus-, Weiter- und Fortbildung, Wissens- und Erfahrungskompetenz für eine persönlich nachgefragte und persönlich erbrachte Dienstleistung.
Chancen durch die Nachfrage nach erstklassiger Medizin
Die Zeit der gesetzlichen Zwangsversicherung für alle Erkrankungsrisiken ist vorbei. Angesagt ist die Privatisierung der Krankenversicherung - bei steuer- oder umlagefinanziertem, nachhaltigem Sozialschutz im subsidiären Notfall. Hierin liegt die Chance für freiberufliche Ärzte und freie Ärzteverbände - auf einem zukünftigen Gesundheitsmarkt, der durch die Nachfrage ihrer "Kunden" nach erstklassiger Medizin bestimmt wird.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1998; 95: A-876-878
[Heft 15]


Anschrift des Verfassers
Prof. Dr. med. Horst Baier
Universität Konstanz
Sozialwissenschaftliche Fakultät
Lehrstuhl für Soziologie
Postfach 55 60 78457 Konstanz

 

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Kern, Axel Olaf; Beske, Prof. Dr. med. Fritz; Lescow, Hanna

Auswertung einer Leserumfrage: Leistungseinschränkung oder Rationierung im Gesundheitswesen?

in: Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 3 (22.01.1999), Seite A-113
THEMEN DER ZEIT: Aufsätze

457 Leser gaben Auskunft darüber, ob und wo
nach ihrer Erfahrung im ärztlichen Alltag rationiert wird.*
Axel Olaf Kern, Fritz Beske, Hanna Lescow Das Deutsche Ärzteblatt hat in Zusammenarbeit mit dem Institut für Gesundheits-System-Forschung Kiel in Heft 14 vom 3. April 1998 eine Leserumfrage zum Thema "Leistungseinschränkung oder Rationierung im Gesundheitswesen?" durchgeführt. Daran haben sich 457 Ärztinnen und Ärzte beteiligt (74,4 Prozent niedergelassen, 16,8 Prozent im Krankenhaus tätig, 8,8 Prozent sonstige). Die Ergebnisse der Umfrage erheben keinen Anspruch auf Repräsentativität, weisen jedoch auf wichtige Punkte in der gesundheitspolitischen Diskussion hin und bringen Lösungsvorschläge in die Diskussion ein. Mit dieser Leserumfrage wurde die Einbeziehung der Leser des Deutschen Ärzteblattes in die gesundheitspolitische Diskussion fortgesetzt, die mit der Fragestellung "Wo würden Sie reformieren?" in Heft 44/1996 begonnen worden ist.
Versorgung der Patienten
Mit der ersten Frage wurde versucht, eine Einschätzung über die Versorgungssituation der Patienten aus der subjektiven Sicht des Arztes zu erhalten. Gefragt wurde danach, welche Auswirkungen Einsparungsmaßnahmen auf die Versorgung der Patienten haben und wie viele von den Patienten entsprechend dem jetzigen Stand medizinischen Wissens optimal, ausreichend oder nur unzureichend versorgt werden können. Als Antwortmöglichkeiten waren jeweils "alle", "mehr als 50 Prozent", "weniger als 50 Prozent" und "niemand" vorgegeben. Grafik 1 zeigt das Ergebnis.
Auf die Frage, wie viele Patienten ausreichend versorgt werden können, geben 31,7 Prozent der Ärztinnen und Ärzte an, alle Patienten medizinisch ausreichend versorgen zu können. 44 Prozent hielten für mehr als die Hälfte ihrer Patienten die medizinische Versorgung für ausreichend. 19,3 Prozent betrachteten die Versorgung für weniger als die Hälfte der Patienten für ausreichend. 1,3 Prozent gaben an, daß kein Patient medizinisch ausreichend versorgt werden kann.
Damit Auswirkungen von Einsparungsmaßnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung auf die ärztliche Tätigkeit erfaßt werden können, wurde gefragt, welche Diagnoseverfahren und welche therapeutischen Leistungen nicht mehr abgerechnet werden können.
Die Antworten für niedergelassene und für im Krankenhaus tätige Ärztinnen und Ärzte wurden getrennt ausgewertet. Diagnoseverfahren: Von 244 niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten wurden die in Tabelle 1 aufgeführten Diagnoseverfahren angegeben, die nach dem individuellen Dafürhalten infolge von Einsparungsmaßnahmen in der Gesetzlichen Krankenversicherung nicht mehr von den Krankenkassen erstattet werden.
Die im Krankenhaus tätigen Ärztinnen und Ärzte gaben im wesentlichen ähnliche Einschränkungen an wie die niedergelassenen Ärzte. Genannt wurden mit 14 Prozent Magnetresonanztomographie und mit 12 Prozent die Computertomographie. Es folgen die Labordiagnostik mit 14 Prozent, die Röntgendiagnostik, die Mammographie und Gesprächsleistungen mit jeweils 10 Prozent, das EKG mit 6 Prozent und
die Sonographie einschließ-lich Dopplersonographie mit 4 Prozent. Alle weiteren Nennungen lagen unter 2 Prozent. Es wurde darauf hingewiesen, daß die menschliche Betreuung, die Zeit für den Patienten, zu kurz kommt. Statt dessen sei eine Zunahme nicht bezahlter Überstunden an der Tagesordnung.
In einigen Antworten zu dieser Frage wurde darauf hingewiesen, daß aufgrund der Einsparungsmaßnahmen in der Gesetzlichen Krankenversicherung keine Einschränkungen für Diagnoseverfahren bestünden. Ein niedergelassener Arzt meinte, daß Einschränkungen in der Diagnose erforderlich seien, da "unnötige Diagnoseverfahren, besonders Messungen bei Osteoporose", praktiziert würden. Ein Krankenhausarzt schrieb, daß Röntgen, CT und MRT "medizinisch überflüssige Absicherungsdiagnostik" seien, ein anderer Krankenhausarzt, "es wird nach wie vor zuviel an Diagnostik betrieben: zu wenig Anamnese-Untersuchungen, zu viel CT/NMR etc.".
Immer wieder wurde darauf verwiesen, daß die Budgetierung Art und Menge der Diagnoseverfahren insgesamt einschränkt, da alle Diagnoseverfahren bis zur Ausschöpfung des Budgets abgerechnet werden könnten. Insgesamt scheinen besonders die neuen kostenintensiven sowie zeitintensive Diagnoseverfahren von der Budgetierung betroffen zu sein.
Therapeutische Leistungen. Die Frage nach therapeutischen Leistungen, die nicht mehr abgerechnet werden können, wurde von 340 Ärztinnen und Ärzten beantwortet. Auch hier wurde nach ärztlichen Tätigkeitsbereichen getrennt ausgewertet. Tabelle 2 zeigt die überwiegend genannten therapeutischen Leistungen aus der Sicht niedergelassener Ärzte.
Therapeutische Einschränkungen im Krankenhaus wurden in erster Linie im Bereich Chemotherapie (14,3 Prozent), bei Medikamenten generell (11,4 Prozent), der Psychotherapie (8,6 Prozent), bei der persönlichen Zuwendung (5,7 Prozent), bei Rehabilitationsmaßnahmen (5,7 Prozent) und bei der Dialyse (5,7 Prozent) gesehen. Sonstige Angaben lagen unter 5 Prozent.
Im therapeutischen Bereich scheint der Umfrage zufolge insbesondere an teuren Therapien, an zeitaufwendigen Therapien und an Therapien gespart zu werden, die nur eine Verbesserung, aber keine Heilung versprechen.
Die Rationierung von Gesundheitsleistungen ist in aller Munde. Was Rationierung ist, bleibt dagegen umstritten, ist unzureichend oder überhaupt nicht definiert.
Wir wollten wissen, wie Ärzte die Rationierung von Gesundheitsleistungen definieren, und haben in einer offenen Frage um diese Definition gebeten. 435 Ärztinnen und Ärzte haben geantwortet, eine auf den ersten Eindruck relativ große Zahl. Überwiegend wurde dann jedoch statt einer Definition ein Kommentar über die als Rationierung empfundene Situation gegeben, der meist negativ ausfiel. In 65 Antworten wurde die Rationierung von Gesundheitsleistungen als eine Einschränkung, Begrenzung oder Budgetierung von Leistungen beschrieben. Es wurde von Rationierung als einer Beschränkung auf unbedingt notwendige, wissenschaftlich gesicherte Leistungen gesprochen (55). Auch die Begriffe Optimierung (5), Prioritätensetzung (4), Kosten-Nutzen-Analyse (3) und Anwendung einer Evidence Based Medicine (1) wurden genannt.
Kritisiert wurde von niedergelassenen Ärzten genauso wie von Krankenhausärzten eine mit einer Rationierung verbundene mangelhafte Versorgung (17) und das Vorenthalten von Maßnahmen (32). Auch das Vernachlässigen der Prophylaxe durch Rationierung wurde beklagt (3). Patienten würden nur "für den Moment funktionsfähig" erhalten.
Die Frage wurde auch genutzt, um den Unmut über wirtschaftliche Nachteile auszudrücken. So wurde beklagt, Ärzte würden aufgrund von Rationierungsmaßnahmen nicht mehr leistungsgerecht oder nicht mehr kostendeckend bezahlt (14). Krankenhausärzte erwähnten Personalabbau und eine daraus resultierende Mehrbelastung (2). Von niedergelassenen Ärzten wurde eine Einschränkung der Therapie- und Diagnosefreiheit (8) mit Rationierung verbunden. Krankenhausärzte beklagten das Nichteinhalten medizinischer Standards (4).
"Wer arm ist, stirbt früher" wurde als Resultat der Rationierung (3) oder als eine Umverteilung der Kosten zu Lasten der Patienten (3) formuliert. Andere meinten, daß mit Rationierung die Einführung einer Altersgrenze für Gesundheitsleistungen verbunden ist (6).
Häufig wurden Schlagworte benutzt, um dem Unmut über Rationierungsmaßnahmen Ausdruck zu geben: Zweiklassenmedizin (15), Basisversorgung (8), Mangelverwaltung (5) und Triage (4) bis zu Unsinn, Schwachsinn, Katastrophe und Betrug.
Es gab jedoch auch Ärzte, welche die Rationierung von Gesundheitsleistungen begrüßten und sie als "machbar, unvermeidbar im Hinblick auf Kostenreduzierung" und "folgenlos für den Gesundheitszustand der Gesamtbevölkerung" beschrieben. Rationierung könne Doppeluntersuchungen vermeiden (5), das Anspruchsdenken der Patienten reduzieren (4) oder Abrechnungsbetrug verhindern (zwei niedergelassene Ärzte). In einer Antwort wurden die Rationierungsmaßnahmen als "letzte Rettung der GKV" gesehen. Ein anderer meinte, Rationierung sei "ein Vorgang, der schon immer von einem verantwortungsbewußten Arzt tagtäglich durchgeführt wurde". Ein weiterer Arzt formulierte, "wenn alle Patienten nach den gültigen medizinischen und juristischen Standards behandelt würden, bräche die medizinische Versorgung sofort zusammen; deshalb rationiert jeder Arzt unterschwellig, damit es nicht bemerkt wird".
Ein niedergelassener Arzt hofft auf "Stärkung der hausärztlichen Funktion als Spezialistenfilter". Ein Krankenhausarzt plädiert für "weniger Niederlassung und mehr regionale Krankenhäuser". Ein anderer fordert, "die Zahl der Ärzte sollte gesenkt werden". Bei einer breiten Streuung von Meinungen innerhalb der Ärzteschaft wurde ein grundsätzlicher Unmut Sparbemühungen gegenüber deutlich.
Kriterien für eine Rationierung
Rationierung kann definiert werden, es können aber auch Kriterien einer Rationierung zugrunde gelegt werden. Derartige Kriterien wollten wir mit der Frage erfassen: "Welche Kriterien sollten zugrunde gelegt werden, wenn es je zu einer Rationierung von Gesundheitsleistungen kommen sollte?" Diese Frage wurde von 433 Ärztinnen und Ärzten beantwortet, eine hohe Antwortquote. Es wurden Rationierungsvorschläge gemacht und Forderungen erhoben. Kriterien wurden zum einen auf Patienten und zum anderen auf die Art zu erbringender Leistungen bezogen. Eine Übersicht tabellarisch auswertbarer Antworten gibt Tabelle 3.
Ein großer Teil der Antworten gab keine Kriterien an, sondern bezog sich auf Vorschläge, wie Kosten im Gesundheitswesen einzusparen seien. In 30 Antworten wurde vorgeschlagen, nur noch eine Basisversorgung über die Kassen zu garantieren und den Rest privat abzusichern. Andere Vorschläge waren: c Erhöhung der Eigenbeteiligung des Patienten
c Einführung eines Erstattungssystems
c konsequente Kontrolle des Abrechnungsverhaltens der Ärzte
c mehr Marktwirtschaft
c Bildung einer einzigen Kasse
c stärkere Standardisierung
c Dokumentationspflichten den Verursachern anlasten
c Positivliste
c Wiedereinführung der Polikliniken und des ABC-Systems der DDR
c Verbieten von Mehrfachuntersuchungen
c Auflösen überflüssiger Institutionen
c Abschaffung der Mitversicherung von Familienangehörigen.
Rationierung findet heute bereits statt
In der Literatur, in Veranstaltungen und in Gesprächen wird immer wieder darauf hingewiesen, daß es schon heute Rationierung gibt, mit mehr oder weniger konkreten Beispielen. Unsere Frage hierzu lautete: "Sind Sie der Auffassung, daß generell eine Rationierung von Gesundheitsleistungen entsprechend Ihrer Definition schon heute erfolgt?" Geantwortet werden konnte mit "ja", "nein" oder "keine Meinung", verbunden mit der Bitte, bei einer zustimmenden Antwort Beispiele zu geben.
Rationierung ist Realität - so kann die subjektiv empfundene Auffassung beschrieben werden (Grafik 2).
Von 289 Ärztinnen und Ärzten wurden Beispiele für Rationierung aus ihrem Arbeitsbereich gegeben.
Unter Rationierung verstehen niedergelassene Ärztinnen und Ärzte die Budgets der letzten Jahre (55). Richtgrößen werden kaum erwähnt. Als Folge der Budgetierung wurde eine "entsprechende Schließung der Praxen (Urlaub usw.)" angegeben sowie eine "verringerte Zahl an Wiederbestellungen" und ein "Aufschieben von Terminen". Außerdem käme es aufgrund der Budgets zu "Abschreckung (der Patienten) durch verlängerte Wartezeiten". Als Folge der Budgetierung wurde von acht Ärzten eine Einsparung an prophylaktischer Therapie, von neun Ärzten eine Reduktion der Hausbesuche und von zehn Ärzten eine Abkürzung der Zuwendung zum Patienten gesehen. Eine weitere Folge der Budgetierung sei die "Einschränkung sämtlicher diagnostischer Maßnahmen" (12). Einschränkungen speziell im Laborbereich aufgrund eines Laborbudgets wurden von sieben Ärzten angeführt. Häufig wurden auch das Arzneimittelbudget und die Arzneimittelrichtgrößen erwähnt (30). So wurde angegeben, daß "fast alle Behandlungen mit innovativen Medikamenten den Rahmen des Arzneimittelbudgets sprengen". Besonders erwähnt wurden Einschränkungen bei der Verordnung von oralen Antimykotika, Antiglaucomatika, Epileptika, Parkinsonmitteln, Neuroleptika, Antidepressiva, Antihypertonika sowie Cholesterinsenkern. Im Zusammenhang mit Arzneimitteln verwiesen 7 Ärzte auf die Selbstbeteiligung des Patienten. Ein Arzt meinte, die "Rezeptgebühr führt dazu, daß einige Patienten schon auf notwendige Medikamente verzichten".
Eine Reduktion ambulanter Operationen gaben neun niedergelassene Ärzte an: "Präkanzerosen der Hand werden nicht mehr operiert, sondern beobachtet. Erst bei Entstehung von Karzinom oder Melanom Operation." Viermal wurden Wartelisten oder Wartezeiten für Operationen erwähnt.
Rationierung von Kur- und Rehabilitationsmaßnahmen wurden von 16 niedergelassenen Ärzten sowie von Ärzten aus Rehabilitationseinrichtungen als bereits existent angegeben.
Die Budgetierung von Heilmitteln wurde von 33 Ärzten aufgeführt.
Die Ärztinnen und Ärzte im Krankenhaus gaben ähnlich wie ihre niedergelassenen Kollegen an, die Einführung von Budgets sei eine Form der Rationierung. Bereits heute würde bei der Medikation, in der Diagnostik, in der Prävention und in der Rehabilitation rationiert. Ein Krankenhausarzt schrieb, "potentiell ,teure' Patienten werden nicht mehr aufgenommen", ein anderer, "im sehr hohen Alter kann nicht mehr alles gemacht werden!". Krankenhausspezifisch wurde auf Personalabbau, Reduzierung von Krankenhausbetten und die Kürzung der Verweildauer hingewiesen. Ein Arzt sah als Resultat "mangelhafte Pflege, keine Zuwendung", ein anderer "überfüllte Krankenhäuser mit extrem niedriger Liegedauer". In einer Antwort hieß es, es gäbe "erhebliche Ausgaben für Unsinniges! Sie könnten besser angelegt werden." Und eine weitere Zuschrift erklärt den Widerspruch dieser beiden Aussagen damit, daß es eine "chaotische Situation zwischen Mangel und Verschwendung wegen fehlenden Konsenses und Egoismus" gebe. Häufig wurde sowohl von niedergelassenen Ärzten als auch von Krankenhausärzten das Verschieben von Leistungen als Folge der Einspa-rungsmaßnahmen erwähnt. "Hausarzt schiebt zum Facharzt, der zum Krankenhaus, das retourniert!" Insgesamt ist festzustellen, daß Ärzte häufig eine Rationierung von Gesundheitsleistungen eng mit dem Begriff der Budgetierung verknüpfen. Leitlinien zu Diagnose und Therapie
Leitlinien als Handlungsanleitung, als Handlungshorizont oder als Kriterium der Qualitätssicherung gewinnen an Bedeutung, mehr noch in der Diskussion als im täglichen Handeln. Wir stellten die Frage: "Bitte beurteilen Sie Leitlinien zu Diagnose und Therapie. In welchem Ausmaß unterstützen diese Leitlinien Ihre ärztliche Tätigkeit?" Die Antworten: 9,2 Prozent der Ärzte geben an, daß Leitlinien ihre Tätigkeit voll und ganz unterstützten, 48,4 Prozent nutzten Leitlinien teilweise, 13,1 Prozent überhaupt nicht. Rund 22 Prozent gaben an, keine Leitlinien zu kennen. In zusätzlichen Bemerkungen wurden häufig die vorhandenen Leitlinien als praxisfremd eingestuft, oder es wurde geurteilt, daß Leitlinien aus Kostengründen nicht immer einzuhalten seien. Es wurden Befürchtungen geäußert, Leitlinien würden die Defensivmedizin fördern oder als Bremse des medizinischen Fortschritts fungieren und keine Individualmedizin mehr zulassen. Zusätzliche Angaben
Zum Schluß wurde um zusätzliche Angaben gebeten, wenn gewünscht. Diese Möglichkeit wurde genutzt, um Systemkritik zu üben oder persönliche Frustration zu äußern. Es wurden jedoch auch Vorschläge zur Weiterentwicklung des Gesundheitswesens gemacht:
c Einführung von Kostenerstattung
c Einführung von Positivlisten
c vermehrtes Qualitätsmanagement
c Einführung einer solidarischen Basisversorgung mit privater Zusatzversicherung
c unabhängige Aufsicht über Krankenkassenausgaben
c strengere Überweisungskriterien
c festes Gehalt für alle Ärzte
c Verbot von Arzneimittelwerbung in Fernsehen und Laienpresse.


Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1999; 96: A-113-117
[Heft 3]
Anschrift der Verfasser
Dipl.-Volksw. Dipl.-Betriebsw. (BA)
Axel Olaf Kern
Prof. Dr. med. Fritz Beske
Apothekerin Hanna Lescow
Institut für Gesundheits-System-Forschung
Weimarer Straße 8, 24106 Kiel

Tabelle 1
Diagnoseverfahren, die aus Sicht niedergelassener Ärzte nicht mehr abgerechnet werden können. Mehrfachnennungen möglich (n = 244)
Diagnoseverfahren Nennungen in Prozent
Sonographie 19,3
Labor 10,4
EKG 9,8
Röntgen 6,6
Gesprächsintensive Diagnostik 5,2
Vorsorge 4,3
Allergietest 4,0
Langzeit-Blutdruckmessung 3,7
Lungenfunktionstest/Spirometrie 3,7
Ophthalmologische Diagnostik 3,4
Erhebung des Ganzkörperstatus 3,2
Ergometrie 2,9
Endoskopie 2,0
Osteodensitometrie 2,0
Sonstige Nennungen unter 2 Prozent 19,5
Gesamt 100,0

Tabelle 2
Therapeutische Leistungen, die aus Sicht niedergelassener Ärzte nicht mehr abgerechnet werden können. Mehrfachnennungen möglich (n = 340)
Therapeutische Leistungen Nennungen in Prozent
Heilmittel 12,0
Patientengespräche 9,7
Arzneimittelverordnung 7,8
ambulante Operationen 7,6
Neuraltherapie/Schmerztherapie 7,4
Hausbesuche 6,5
ambulante Infusionen 5,5
Injektionen 4,9
Phototherapie 2,3
Sonstige Nennungen unter 2 Prozent 36,3
Gesamt 100,0

Tabelle 3
Welche Kriterien sollten zugrunde gelegt werden, wenn es je zu einer Rationierung von Gesundheitsleistungen kommen sollte? Mehrfachnennungen möglich (n = 204)
Kriterien Nennungen in Prozent
Wirksamkeitsnachweis und Evidence Based Medicine 18,2
Medizinische Notwendigkeit 12,8
Alter 11,3
Prognose 9,3
Ökonomische Kriterien 8,8
Medizinische Kriterien 6,4
Einkommen/Vermögen 4,9
Soziale Kriterien 4,4
Ursache der Erkrankung 4,4
Ethische Kriterien 3,4
Lebensqualität 3,4
Mitwirkung des Patienten 2,9
Arzturteil 2,9
Sonstige Nennungen von Kriterien unter 2 Prozent 6,9
Gesamt 100,0