Beitragsseiten

 

 

Medizinethik - Die Höffe-Debatte

 

Höffe, Prof. Dr. phil. Otfried

Aus philosophischer Sicht: Medizin in Zeiten knapper Ressourcen oder: Besonnenheit statt Pleonexie

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 5 (30.01.1998), Seite A-202
THEMEN DER ZEIT: Aufsätze

Weder im Eid des Hippokrates, weder in alten indischen, hebräischen, persischen oder japanischen Gelöbnissen noch im Genfer Ärzte-Gelöbnis von 1948 taucht die "Ressourcenknappheit" auf. Der größeren Sozial- und Ideengeschichte ist das Thema aber seit der Antike vertraut. Nach der wirtschaftlichen und politischen Theorie des Liberalismus gehört die Ressourcenknappheit sogar zu den Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit.
Warum werden Ressourcen knapp? Generell spielen drei sogar anthropologische Faktoren eine Rolle: Erstens ist die letzte Naturvorgabe unseres Lebens, die Erde samt den Tieren, Pflanzen und Materialien, begrenzt. Zweitens müssen wir die Vorgaben "im Schweiße unseres Angesichts" verarbeiten, was jeder lieber meidet. Drittens wohnt dem Menschen eine tendenzielle Unersättlichkeit inne, jene Pleonexia, ein Mehr-und-immer-mehrWollen, das schon nach Platon alles Menschliche - ob Individuum, ob Gruppe oder Institution - mit einer ausufernden Begehrlichkeit ausstattet.
Für die Medizin treten drei kultur- und epochenspezifische Faktoren hinzu. Der erste Faktor, seinerseits komplex, beginnt bei einer Veränderung des Wissensideals: Nach Aristoteles erfüllt sich die natürliche Wißbegier (griechisch: Philo-sophia) in einem nutzenfreien Wissen, letztlich in jenem Wissen höchster Stufe, der Metaphysik, die sich mit den schlechthin ersten Gründen allen Seins und allen Sollens befaßt. Die Neuzeit, nachdrücklich Bacon und Descartes, läßt sich dagegen vom christlichen Gebot der Nächstenliebe inspirieren. Sie stellt das Wissen in den Dienst menschlichen Wohlergehens und bestimmt dieses in Begriffen von Arbeitserleichterung und vor allem Erhaltung der Gesundheit. Zugespitzt formuliert: an die Stelle der Metaphysik tritt die Medizin.
Das neue, nicht mehr nutzenfreie Wissen befriedigt nicht bloß bestehende Bedürfnisse, sondern spricht auch die Pleonexie an; es weckt und gestaltet neue Begehrlichkeiten. Und weil die Erfolge sich rasch einstellen, steigert man sich gern in Hybris, in Allmachtsphantasien, und erwartet mit Descartes (1637/1971, 58), die Medizin werde "unendlich viele Krankheiten . . ., vielleicht sogar die Altersschwäche loswerden können". Spätestens die Erfahrung, daß es trotz medizinischer Forschung, manchmal sogar ihretwegen, mehr und längere Pflegefälle gibt, belehrt uns eines Besseren. Oder: Seit AIDS weiß auch die Öffentlichkeit, was Fachleuten schon vorher bewußt war: daß die Infektionskrankheiten nicht aussterben, sich vielmehr um neue Arten erweitern. Die Kluft zwischen der Erwartung an die Medizin, vielleicht sogar ihrer Verheißung, und der tatsächlichen Erfüllung schließt sich nicht.
Die Medizin Opfer ihres Erfolgs
Andererseits sind die Möglichkeiten derart gewachsen, daß die Medizin zum Opfer ihres Erfolgs wird. Darin vollendet sich der erste epochenspezifische Faktor: daß wir statt einer Kostenexplosion eine Leistungsexplosion erleben, deretwegen allerdings auch die Gesamtkosten des Gesundheitswesens überschäumen. Nach Berechnungen des britischen "Office of Health Economics" erforderte das Gesundheitswesen, stünde die Medizin auf dem Stand von vor hundert Jahren, nur ein Prozent der gegenwärtigen Medizin-Kosten. In Deutschland fielen - was sich ohne Zweifel bequem finanzieren ließe - statt "satter" 400 Milliarden lediglich vier Milliarden Mark an. Weder die Politiker noch die Medien bringen aber den Mut auf, der Öffentlichkeit klarzumachen, daß eine Medizin, die sich dank ständiger Fortschritte auf immer mehr versteht, entweder einen ständig wachsenden Anteil am Bruttosozialprodukt verlangt - und dann mit den Ansprüchen des Bildungswesens, der Rechtssicherheit, der Altersvorsorge . . . in Konflikt gerät - oder aber unmöglich jedem Patienten eine Versorgung nach dem letzten Stand der Forschung bieten kann.
Die traditionelle Antwort auf die Pleonexie und zugleich eine Antwort auf die Ressourcenknappheit heißt Sophrosyne, Besonnenheit oder Maß. Besonnenheit ist eine moralische Grundhaltung - früher sagte man Tugend -, die weit tiefer ansetzt als alle Rationalisierungs- oder Rationierungs- vorhaben. Sie bekämpft die Ressourcenknappheit am wahren Ursprung, bei den ausufernden Antriebskräften. Was Aristoteles (1991, 59) sowohl bei der Menge als auch bei den Mächtigen kritisiert, trifft auf den Besonnenen nicht zu: Er ist kein Sklave seiner Bedürfnisse, sondern im Gegenteil ihr Herr. Wer besonnen ist, teilt die Erfahrung des ersten Moralphilosophen, Sokrates: Auf ein Leben ausgerichtet, auf das es dem Menschen eigentlich ankommt, auf eine gute und gelungene, eine sinnerfüllte Existenz, hat er im Gegensatz zur Menge so wenige und bescheidene Bedürfnisse, daß es ihm an Ressourcen nicht fehlt. Daß selbst angesehene Menschen viele Ärzte in Anspruch nehmen, hält Platon (1958, 136) deshalb für ein sicheres Kennzeichen schlechter Sitten.
Eine Gesundheitspolitik im Geist von Sokrates und Platon verbindet eine ebenso umfassende wie gründliche Prophylaxe, die angemessene Lebensführung, mit einer strengen Leistungsbegrenzung: Auf der einen Seite lasse man sein Leben von Aufgaben geprägt sein, deretwegen man zum Kranksein keine Zeit hat. Außerdem unterwerfe man sich einer mäßigen Lebensweise, angeleitet von einer Diätetik, von der Foucault zu Recht sagt, daß sie aus mehr als einer bloßen Sammlung von medizinischen Vorsichtsmaßnahmen und Heilungsanweisungen besteht. Auf der anderen Seite sagt Platon (1958, 137), was bei umsichtiger Anwendung etwa für die Intensivmedizin nicht bloß aus Kostengründen gelten könnte: daß es dem Menschen nicht auf ein langes, dabei aber elendes Leben ankomme.
Besonnenheit aus Selbstinteresse
Moralphilosophen sind keine rückwärtsgewandten Moralisten, die über schlechter gewordene Weltläufe klagen. Sie kennen durchaus den zweiten Grund für die spezifische neuzeitliche Ressourcenknappheit, eine weitere Mentalitätsveränderung, erneut eine radikale Umwertung der Werte, jetzt aber nicht beim Wissenschaftsideal, sondern beim Lebensideal: Während man vorher die ausufernden Antriebskräfte als Leidenschaften ansah, oft sogar als Laster, sie mithin als illegitim zumindest verdächtigte, gelten sie nun als Interessen, folglich als normativ neutral. Im Wirtschaftsbereich etwa wandelt sich das Laster des Neides zur wirtschaftlichen Kompetenz, und die Habsucht wird zum lobenswerten Geschäftssinn. Offensichtlich erschwert diese Umwertung die Besonnenheit von Grund auf, und darin liegt der zweite epochenspezifische Faktor für Ressourcenknappheit: Früher in normative Fesseln, nämlich in den Vorwurf von Leidenschaft, sogar von Laster eingebunden, wird die Begehrlichkeit jetzt geradezu entfesselt.
Wer sich trotzdem noch einschränkt, hat entweder das Prinzip der Moderne nicht verstanden, oder es fehlt ihm an Durchsetzungskraft. Im einen Fall steht er als schwach, im anderen als der Dumme da. Um beides zu verhindern, pflegen Interessen als Verbandslobbys aufzutreten, was zum bekannten Ergebnis führt: einer nicht bloß entfesselten, sondern in ihrer Entfesselung auch noch schlagkräftig organisierten Begehrlichkeit.
Solange die Umwertung wirksam bleibt und die ehemaligen Leidenschaften und Laster als normativ harmlose Interessen gelten, kommt die Besonnenheit nur "systemkonform" zustande: durch Interessen, die den Begehrlichkeitsinteressen entgegenwirken. Eine Chance hat die Besonnenheit nur als Inbegriff von Gegeninteressen, nämlich als ein Anreiz gegen Begehrlichkeit, der sich aus Selbstinteresse speist.
Eine Besonnenheit unter den beiden Bedingungen der Moderne, der Leistungsexplosion und der entfesselten Begehrlichkeit, kommt daher nicht umhin, Gegenkräfte zu stimulieren. Nur empirische Überlegungen zeigen, welche Anreize es beim Gesundheitswesen überhaupt gibt, nur die Erfahrung, welche von ihnen kräftig, welche wirksam genug sind. Eine genuin philosophische Kompetenz liegt hier nicht vor; allerdings kann sich der Philosoph kundig machen.
Auf seiten des Patienten steuern der Begehrlichkeit beispielsweise entgegen: eine Selbstbeteiligung und eine Beitragsrückerstattung bei Nichtinanspruchnahme von Leistungen. Begehrlichkeitsdämmend wirkt sich glücklicherweise auch gute Aufklärung aus. Kostenwirksam wird die Begehrlichkeit des Patienten freilich erst dann, wenn sie auf eine entgegenkommende Begehrlichkeit der sogenannten Leistungsanbieter stößt. So geben Ärzte gelegentlich den Wünschen, sogar Forderungen ihrer Patienten nach, um diese nicht zu verlieren. Vielleicht nehmen sie auch manches im Hinblick auf das Honorierungs-System vor. Eine weitere Frage: Ist es sinnvoll, daß man an jeder Komplikation, sogar an jenen Nachoperationen verdient, die durch einen ärztlichen Fehler erforderlich werden? Die Alternative - Fallpauschalen - bergen freilich die Gefahr einer Risikoselektion in sich: Komplizierte Fälle sucht man lieber abzuschieben.
Wie geht die Gesellschaft
mit Knappheit um?
Kostensteigernd wirken sich auch Strukturschwächen aus, beispielsweise die mangelnde Verzahnung von ambulanter und stationärer Medizin. Vielleicht gibt es auch unnötige Überweisungen. In den Niederlanden beispielsweise kommen im Jahr 1992 pro tausend Einwohner nur halb so viele Überweisungen zustande wie in Deutschland (nach Schneider 1995, 56).
Der Besonnenheit bedarf es auch bei der Forschung, weil deren Kosten das Gesundheitswesen nicht unberührt lassen. Ohnehin hat der Nutzenzuwachs deutlich abgenommen. Bei der Lebens- erwartung, auf die sich die medizinische Forschung selbst gern beruft, fallen in unseren entwickelten Gesellschaften die Zuwachsraten aus neuen medizinischen Erkenntnissen immer geringer aus. Überdies steigen die Möglichkeiten der Diagnose weit stärker als die der Therapie.
Solange die Besonnenheit nicht von allein zustande kommt, freiwillig und auf allen Seiten, bleiben die Ressourcen notwendig knapp. Das provoziert die Frage: Wie geht die Gesellschaft mit der Knappheit moralisch angemessen um? Generell gibt es drei Ansätze: den Utilitarismus, den Standpunkt der Gerechtigkeit und jenes Überbieten von Gerechtigkeit, das in Mitleid, Großzügigkeit und Wohltätigkeit besteht.
Der Utilitarismus betrachtet die Gesellschaft als ein Kollektiv, das die vorhandenen Mittel zugunsten eines maximalen Gesamtwohls einsetzt. Im Konfliktfall ist unter sonst gleichen Bedingungen das Leben eines Kindes wichtiger als das älterer Menschen; denn es werden mehr Lebensjahre gerettet. Analog ist die Mutter von vier Kindern wichtiger als der Junggeselle. Gewiß, die Position ist verfeinert worden; aber auch dann widerspricht sie unseren moralischen Intuitionen deutlich genug. Während wir jedem Menschen unveräußerliche Rechte zusprechen, erlaubt der Utilitarismus, das Wohlergehen der einen gegen das der anderen zu verrechnen.
Der Standpunkt der Gerechtigkeit schließt diese Möglichkeit aus. Mit gutem Grund herrscht er deshalb vor: sowohl in der Geschichte der Philosophie als auch in den zeitgenössischen Debatten. Obwohl eine Welt, in der Gerechtigkeit herrscht, ein Leitziel der Menschheit seit ihren Anfängen bildet, ist aber die Frage, worin die Gerechtigkeit besteht, heftig umstritten. In dieser Situation beginnt die Philosophie mit einer Begriffserklärung; sie weist auf eine prinzipielle Grenze hin: Im Rahmen der Sozialmoral geht es der Gerechtigkeit bloß um jenen kleinen Anteil, dessen Anerkennung die Menschen einander schulden. Auf einen Mangel des anderen Anteils, der verdienstlichen Mehrleistung, auf zu wenig Mitleid, Großzügigkeit oder Wohltätigkeit, reagiert man mit Enttäuschung, auf fehlende Gerechtigkeit hingegen mit Empörung. Wegen dieses Unterschiedes soll man persönlich durchaus großzügig oder wohltätig sein; eine zwangsbefugte Gesellschaftsordnung dagegen, ein Rechts- und Staatswesen, ist im wesentlichen nur für Gerechtigkeit zuständig.
Daraus folgt eine Verschiebungsgefahr, die oft schon bewußt eingesetzt wird und dann auf Mißbrauch hinausläuft: Man erklärt für eine Gerechtigkeitspflicht, was in Wahrheit zum verdienstlichen Mehr gehört. Und gelegentlich sagt man "soziale Gerechtigkeit" und meint nichts anderes als "sozialen Neid". Hier deutet sich der dritte epochenspezifische Faktor für Ressourcenknappheit an: Die Moderne hat die Tendenz, noch als geschuldete Grundleistung anzusehen, was in Wahrheit schon in den Bereich des verdienstlichen Mehr fällt. Müßte jeder, der nach medizinischer Leistung verlangt, diese, wie bei Dienstleistungen üblich, selber vergüten, sei es unmittelbar, sei es über eine Privatversicherung, so pendelten sich Angebot und Nachfrage aufeinander ein. In Form einer Säkularisierung der christlichen Nächstenliebe wird aber aus manch freiwilliger Mehrleistung eine geschuldete Solidaritätspflicht. Erst sie setzt die Balance aus Angebot und Nachfrage außer Kraft und gibt neue Begehrlichkeiten frei. Eine Wohltat kann sich allerdings bei näherer Betrachtung als gerechtigkeitsgeboten erweisen: Wer jemandem aus einer Not hilft, die er mitverschuldet hat, handelt nicht aus Mitleid, sondern aus Gerechtigkeit. Weil die Menschen hilfsbedürftig und ohne ihre Zustimmung auf die Welt kommen, ist die Verantwortung für ihr Wohl - freilich nicht auf unbegrenzte Zeit - gerechtigkeitsgeboten.
Der Grundgedanke der Gerechtigkeit besteht in der Gleichheit, ihre Minimalforderung im Willkürverbot beziehungsweise dem Gebot der Unparteilichkeit. Nun denkt man üblicherweise bei der Gerechtigkeit an Verteilungsgerechtigkeit. Die zu verteilenden Mittel müssen aber erst erarbeitet und dann, im Fall einer Arbeitsteilung, wechselseitig getauscht werden. Wegen dieser Binsenweisheit empfiehlt sich für die Gerechtigkeitstheorie ein Paradigmenwechsel: Man beginne nicht bei der Verteilung, sondern beim Tausch. Denken darf man allerdings nicht nur an Wirtschaftsgüter und Dienstleistungen; getauscht werden auch Gewaltverzichte, was zu den Freiheitsrechten führt, namentlich dem Recht auf die Integrität von Leib und Leben.
Zugunsten eines Paradigmenwechsels spricht schon der Umstand, daß eine Verteilung von oben her erfolgt, also Hierarchien voraussetzt, ein Tausch dagegen als Beziehung unter Gleichen das Grundmuster der Demokratie bildet. Eine Demokratie, die sonst jeden Paternalismus und Maternalismus von sich weist, mancherorts aber den Tausch als Grundmuster der Verteilung verwirft, lebt in einem tiefen Widerspruch. Mancher Einwand liegt auf der Hand, etwa daß Kinder und Behinderte nicht (genug) tauschen können oder daß die früher verantwortlichen Institutionen, Familien, Zünfte, Kommunen . . ., in den letzten Jahrhunderten entmachtet worden sind, daher einen Teil ihrer Aufgaben nicht mehr zu erfüllen vermögen. In beiden Fällen tritt aber die zur Tauschgerechtigkeit schon immer notwendige Ergänzung - die korrektive Gerechtigkeit - auf den Plan. Insofern der Staat die genannten Institutionen politisch und finanziell entmachtet hat, ist der entsprechende Ausgleich gerechtigkeitsgeboten.
Ohne Zweifel ist die Gesundheit ein spezielles, weder nur privates noch lediglich soziales, öffentliches Grundgut. Mindestens drei Faktoren sind nämlich für sie zuständig: außer den gesellschaftlichen Umständen eine natürliche Vorgabe und der eigene Lebensstil. Nun gehört zur Selbstverantwortlichkeit des demokratischen Bürgers das Recht, aber auch die Pflicht, seine Lebensführung selbst in die Hand zu nehmen. Wer trotzdem selbst Erwachsene auf eine bestimmte Vorsorge fürs Leben, auf eine Versicherung gegen Krankheit, verpflichtet, kann sich beispielsweise auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen berufen - etwa auf die Entmachtung der Solidargemeinschaften, der Familien und Zünfte - und auf die Abhängigkeit der Arbeitnehmer und ihrer Familien von der Arbeitsfähigkeit. Derartige Argumente begründen aber erst eine Versicherungspflicht, noch keine Pflichtversicherung.
Die gewöhnlichen Versicherungen funktionieren auf der Basis der Risikoäquivalenz. Bei jüngerem Beitritt hat man eine geringere Beitragsrate, bei riskanten Berufen oder Hobbys eine höhere. Infolgedessen pflegen sie wenig Probleme zu haben. Wo man das Prinzip der Risikoäquivalenz aufhebt und diejenigen, die mehr einzahlen, als es die Risikoäquivalenz verlangt, die Mehrzahler, stillschweigend einer (Umverteilungs-)Steuer unterwirft, dort weckt man zusätzlich die Begehrlichkeit der Politiker. Zugunsten ihrer Wahlklientel haben sie den Kern, eine Grundversicherung gegen Krankheit, um eine immer üppigere Hülle von Zusatzaufgaben angereichert und stehen heute vor dem Problem, wieder zum Kern zurückzufinden.
Die entsprechende Entwicklung hat allerdings mit der Mentalität einer Gesellschaft zu tun. Deshalb lohnt sich ein Blick in die Statistik. Auf die Frage, was ihnen wichtiger sei, Freiheit oder Gleichheit, votieren unter den Deutschen im Vergleich zu den Briten doppelt so viele für die Gleichheit und halb so viele für die Freiheit. Von dieser Einstellung her ist es kein Zufall, daß ein Land, unser Land, das ohnehin mehr Gleichheit als Großbritannien kennt, nicht dem Prinzip Risikoäquivalenz folgt, außerdem hinsichtlich des Leistungsversprechens zur Weltspitze gehört. Die Entwicklung trifft übrigens auf den Sozialstaat generell zu. Er, der als gezielte Hilfe für sozial Schwache begann, ist im Laufe der Jahrzehnte zur umfassenden Fürsorge für die Mehrheit der Bevölkerung geworden, und dies, obwohl deren (inflationsbereinigtes) Pro-Kopf-Einkommen enorm gestiegen ist.
Versuchen wir zum Schluß einen konstruktiven Vorschlag: Nach dem Prinzip, das oberhalb eines sozialen Minimums ohnehin zuständig ist, nach dem Prinzip Freiheit, erlaube man, die Entscheidung, was einem die Gesundheit wert ist, selber zu treffen. Nach diesem Grundsatz wäre für die Krankenversicherung ein neuartiges, jetzt mehrstufiges System empfehlenswert: (1) die Grundstufe, eine möglicherweise gesetzliche Krankenversicherung, ist für das elementare Minimum zuständig. (2) Die Aufbaustufe, die genossenschaftlichen oder privaten Krankenkassen, übernimmt die Mehraufwendungen - und erhält dabei das Recht, über Risikofaktoren wie Übergewicht, Bewegungsmangel, Alkohol- und Nikotinmißbrauch als Parameter nachzudenken. (Allerdings könnte es sein, daß diejenigen, die gesund leben, aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung höhere Kosten verursachen.) (3) Ähnlich wie private Lebensversicherungen die persönliche Altersvorsorge abrunden, ist auch in der Krankenversicherung für Zusatzwünsche eine Abrundungsstufe denkbar.
Die genaue Abgrenzung zwischen den Stufen mag schwierig sein. Spätestens der internationale Vergleich zeigt aber, daß Deutschland sehr großzügig verfährt.
Nicht der geringste Vorteil der skizzierten Stufenordnung besteht in ihrer Transparenz. Es wird wieder sichtbar, daß es bei der medizinischen Versorgung ein Mehr-oder-Weniger gibt, ferner daß man selber entscheiden dürfen soll, wieviel man davon will; schließlich, daß der Eintritt in die höhere Stufe eine Investition in die eigene Zukunft vornimmt, die - wie jede Investition - einen Konsumverzicht in der Gegenwart verlangt.
Wie in der Arzt-Patienten-Beziehung die Selbstbestimmung des Patienten eine wachsende Rolle spielt, so darf man sich aber fragen, ob diese Autonomie nicht erweitert werden sollte. Die Entscheidung über die nähere Krankenversicherung selbst zu treffen wäre dem demokratischen mündigen Bürger nur angemessen.
Obwohl meine Überlegungen sehr vorläufig sind, dürften sie deutlich machen, daß das traditionelle Ethos des Arztes, das die Ressourcenknappheit noch ausblendet, künftig um dieses Thema zu erweitern ist. Auch wer nicht allen vorangehenden Überlegungen zustimmt, dürfte um diese Einsicht nicht herumkommen. Da von den zwei genannten Gesichtspunkten, der Besonnenheit und Gerechtigkeit, der zweite vornehmlich in den Aufgabenbereich der Politik gehört, braucht das ärztliche Ethos die Ergänzung um Sophrosyne, um Besonnenheit und Maß. Das Ergebnis mag bedauernswert sein und ist trotzdem kaum zu ändern: Daß jedem Patienten zu jeder Zeit alles medizinische Wissen und Können zur Verfügung gestellt werden - zugespitzt: "Macht, was ihr könnt, bezahlt wird alles" - , dieser Grundsatz kann in Zukunft nicht mehr gelten.


Literatur
Aristoteles 1991: Die Nikomachische Ethik, übersetzt von Olof Gigon, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1. Aufl. Zürich- Stuttgart: Artemis Verlag 1951, 21967; zitierte Stelle: Buch I, Kap. 3, 1095b 19-22.
Descartes, René 1637/1971: Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs, übersetzt von Kuno Fischer, Stuttgart: Reclam; zitierte Stelle aus sechstem Kapitel.
Platon 1958: Politeia, in: Sämtliche Werke, Band 3, Hamburg Rowohlt, zitierte Stellen: Buch III, Kap. 13, 405a, und Kapitel 14, 406 a-b.
Schneider M, u. a. 1995: Gesundheitssysteme im internationalen Vergleich, Augsburg; BASYS.
Als Nachschlagewerk: Lexikon der Ethik, hrsg. v. Otfried Höffe, München: Beck’sche Reihe 51997.


Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1998; 95: A-202-205
[Heft 5]

Anschrift des Verfassers
Prof. Dr. phil. Otfried Höffe
Philosophisches Seminar
Eberhard-Karls-Universität
Bursagasse 1
72070 Tübingen

_____________________________________________________________________________________________

Dabrock, Peter

Medizinethik: Zur Ungerechtigkeit tendierende Elitisierung

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 21 (22.05.1998), Seite A-1272 (Zu dem Beitrag "Aus philosophischer Sicht: Medizin in Zeiten knapper Ressourcen" von Prof. Dr. phil. Otfried Höffe in Heft 5/1998:)
SPEKTRUM: Leserbriefe

Höffes diskussionswürdige gesundheitspolitische Diagnosen und Therapievorschläge sind eingebettet in problematische Präsuppositionen: Was er gesundheitspolitisch zu analysieren anmahnt, hat er weder sozial- noch bildungspolitisch bedacht: Ressourcenknappheit. Bedingungsmöglichkeit und nicht nur nachträgliche Korrektur der Verhältnisbestimmung von Freiheit und Gleichheit und damit der Gerechtigkeit ist die Teilhabe, das heißt die Zugangschance zu (nicht nur politischen, sondern auch sozialen) Ressourcen. Nur wenn sie gewährleistet wird, kann sich der einzelne qualifiziert zwischen Freiheit und Gleichheit entscheiden. Bevor Teilhabe nicht thematisiert wird, ist alle Rede vom Vorrang der Freiheit und der Tauschgerechtigkeit nicht vom Vorwurf einer zur Ungerechtigkeit tendierenden Elitisierung freizusprechen. Besonnenheit allein wird weder die Ressourcenknappheit beheben noch den Weg in die Zweiklassenmedizin aufhalten.
Peter Dabrock, Ruhr-Universität Bochum, 44780 Bochum

 

_____________________________________________________________________________________________

Raitzig, Dr. (H) Marion

Medizinethik: Sozialdarwinismus

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 21 (22.05.1998), Seite A-1268 (Zu dem Beitrag "Aus philosophischer Sicht: Medizin in Zeiten knapper Ressourcen" von Prof. Dr. phil. Otfried Höffe in Heft 5/1998:)
SPEKTRUM: Leserbriefe

In Zeiten knapper Mittel müssen diese gerade mit Hilfe ethischer Kriterien gerecht verteilt werden. Herr Höffe plädiert für Bescheidenheit. Nur entpuppt sich diese als eine Bevorzugung der Privilegierten, Reichen und Gesunden unserer Gesellschaft, denn nur diese werden die Versicherungsbeiträge für die vorgeschlagene Abrundungs- und Aufbaustufe bezahlen können. Hier wird ein Sozialdarwinismus und eben nicht Gerechtigkeit und Freiheit vertreten. Herr Höffe greift auf Aristoteles zurück und erwähnt dabei nicht, daß dieser Gewalt und Zwang forderte, um seine Auffassungen durchzusetzen, die "Unverbesserlichen . . . (hätte er) ganz aus der Gemeinschaft (ge)stoßen" (Aristoteles: Nikomachische Ethik). Die Gesundheit aber jedes einzelnen Menschen ist ein erhaltenswürdiges Gut, Bescheidenheit des einzelnen ist hier, für den, der leben will, unangemessen. Der einzelne muß, seinem natürlichen Lebenswillen folgend, jedes Mittel zum Erhalt seiner Gesundheit wollen. Daher ist Aufgabe der Gemeinschaft, die gerechte Verteilung der knappen Ressourcen vorzunehmen, damit diese allen in gleicher Weise zugute kommen.
Dr. (H) Marion Raitzig, Steimbker Hof 8, 30625 Hannover

 

_____________________________________________________________________________________________

Baden, Dr. med. Rainer

Medizinethik: Sorge nimmt tragisch-komische Züge an

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 21 (22.05.1998), Seite A-1272 (Zu dem Beitrag "Aus philosophischer Sicht: Medizin in Zeiten knapper Ressourcen" von Prof. Dr. phil. Otfried Höffe in Heft 5/1998:)
SPEKTRUM: Leserbriefe

Auch wenn die Argumentationsfigur der Knappheit gesellschaftlicher Ressourcen aus Philosophenmunde nicht weniger ideologieverdächtig bleibt als ihr Mißbrauch in den bekannten politischen Begründungen restriktiver Maßnahmen, bleibt die Zitatensammlung aus dem Schatzkästlein der Sophrosynen bedenkenswert. Es fehlte dabei der Verweis auf I. Illichs bekannte Kritik: "Daß die Sorge des medizingesättigten Wohlstandsbürgers um seine Gesundheit zu den größten Gefahrenquellen geworden ist." Jene Sorge, die vielleicht zu den folgenreichsten Infektionen mit dem Keim der Pleonexie gehört. Über den Surrogatcharakter dieser Art von Sorge, als Pervertierung des Begriffes von Heil, als transzendente Größe nachzudenken ist weniger aus ökonomischen, denn aus sittlichen Gründen geboten.
In Anbetracht des Gesundheitszustands der Armen dieser Welt, deren medizinische Ressourcen in "sophrosynischer Versonnenheit" übergangen werden, nimmt die Sorge um Begrenzung der Ressourcen hier tragisch-komische Züge an . . . Dr. med. Rainer Baden, Diakonie Stetten e.V., Devizesstraße 4, 71332 Waiblingen

 

_____________________________________________________________________________________________

Bormuth, Matthias

Medizinethik: Skepsis bei Vertrauen in den Markt

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 21 (22.05.1998), Seite A-1272 (Zu dem Beitrag "Aus philosophischer Sicht: Medizin in Zeiten knapper Ressourcen" von Prof. Dr. phil. Otfried Höffe in Heft 5/1998:)
SPEKTRUM: Leserbriefe

Ob der antikisierte Blick Höffes auf die Tugenden zwischen "Unersättlichkeit" und "Mäßigung" hinreicht, die komplexe Sachfrage der Verteilungsgerechtigkeit mit der wünschenswerten Tiefenschärfe zu erfassen, steht dahin. Denn ihr Umrißcharakter erfuhr unter der Führung des "Protestantischen Geistes" eine ambitendente Zuspitzung, wie sie ökonomiehistorisch Max Weber im Blick auf den "Geist des Kapitalismus" untersuchte. Die Tugend des leistungsbezogenen, zweckrationalen Maßhaltens triumphierte im okzidentalen Wirtschaften, so daß sie - abgelöst von ihrer religiösen Motivation - im Markthabitus mit der Tendenz zur alleinigen innerweltlichen Bereicherung übereinkommen konnte. Diese paradoxe Indienstnahme der asketischen Lebensführung - auch für das medizinische Wirtschaften - läßt zweifeln, ob sie als via regia aus der Ressourcenknappheit zu empfehlen ist. Zudem stimmt das ungebrochene Vertrauen des Denkers vom Fach auf den sich selbst ausbalancierenden Markt angesichts der Langzeitarbeitslosigkeit skeptisch, wie auch der "konstruktive Vorschlag" des "Prinzip[s] Freiheit" ob der begrenzten Kontextanalyse nur dem glücklichen Zufall - oder verdienten Schicksal - des Langzeitarbeitstätigen gefallen darf.
Matthias Bormuth, Gartenstraße 175, 72074 Tübingen

 

_____________________________________________________________________________________________

Höffe, Prof. Dr. phil. Otfried

Medizinethik: Schlußwort

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 21 (22.05.1998), Seite A-1272 (Zu dem Beitrag "Aus philosophischer Sicht: Medizin in Zeiten knapper Ressourcen" von Prof. Dr. phil. Otfried Höffe in Heft 5/1998:)
SPEKTRUM: Leserbriefe

Eine vernünftige Knappheitspolitik fällt der professionellen Politik aus dem einfachen Grund schwer, daß sich ihr Auftraggeber und Souverän, der Bürger, selber schwer tut. Nach wenigen Jahrzehnten wirtschaftlicher Blüte hat er die Einsicht verdrängt, daß die Knappheit zur Conditio humana gehört und daher nach zwei Grundhaltungen (Tugenden: aretai) verlangt, die wir seit der Antike kennen: Die Besonnenheit tritt der ausufernden Begehrlichkeit (pleonexia) entgegen, und die Gerechtigkeit dem Sozialdarwinismus (zu Dr. Raitzig), da sie jene Knappheit, die auch nach Korrektur mancher "Fehlverwendung" zurückbleibt (zu Herrn Mahler), nach Maßgabe einer zwangsbefugten Moral (und nicht freiwilliger Mehrleistungen) bewältigt. Weil die heutige Knappheit nicht bloß anthropologische, sondern auch zeitspezifische Ursachen hat, erliegt meine Diagnose nicht, wie Herr Bormuth befürchtet, einem "antikisierten Blick".
Im übrigen ist es schön, daß die humanistische Bildung lebendig bleibt. Das von Dr. Seemann genannte apeiron der physis spielt aber in Platons und Aristoteles’ Ethik keine Rolle, und da die Sache der Tugend eingeführt ist und der Stoiker-Hinweis an meiner Diagnose nichts ändert, erweist sich das selbstauferlegte Weiterleseverbot als überflüssig. Und Aristoteles’ Metaphysik, ihre Einleitungskapitel und die Schlußkapitel der Nikomachischen Ethik geben in der Tat dem nutzenfreien Wissen den Vorrang vor der praktischen Philosophie (zu Dr. Laux).
Nicht nur in der Medizin besteht die Neigung, das hierzulande herrschende Anspruchsniveau für schlicht gerechtigkeitsgeboten zu halten.
Der Ländervergleich mahnt zur Vorsicht. Wenn in den USA auf die entsprechende Einwohnerzahl gut vier, bei uns aber gut zehn Betten kommen, so kann man schwerlich jede kleinste Reduktion schon als Gerechtigkeitsverstoß brandmarken. Im übrigen darf man nicht übersehen, daß für die Gesundheit außer genetischen Vorgaben sowohl soziale als auch persönliche Faktoren zuständig sind. Infolgedessen ist die Gesundheit nur teilweise ein öffentliches, teilweise aber auch ein privates Gut, und dem mündigen Bürger stehen eigene Entscheidungsbefugnisse zu, die ihm ein ausufernder Fürsorgestaat gern verwehrt. Das aus mündiger Entscheidungsfreiheit resultierende Mehrstufenmodell der Krankenversicherung darf man nicht mit dem "Totschlagwort" Zweiklassenmedizin abtun (Herr Dabrock). Die höheren Stufen können nämlich das bisherige Maß, gewisse Lohnprozente, beibehalten. Jeder Bürger soll aber unterscheiden dürfen, was ihm die Gesundheit wert ist, wert an gesundheitsbewußter Lebensführung und an prozentualer Beitragshöhe.
Eine nüchterne Diskussion, deren die Knappheitsfrage endlich bedarf, muß für aktuelle Gefahren offenbleiben: daß die Übermacht der Diagnostik fast jeden Gesunden als krank definieren kann, daß eine Zunahme attraktiver Nischenmedizin droht, ferner eine Dominanz kurzfristiger Behandlungserfolge über den langfristigen Gesundheitserfolg.
Prof. Dr. phil. Otfried Höffe

 

_____________________________________________________________________________________________

Seemann, Dr. med. Oliver

Medizinethik: Schade

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 21 (22.05.1998), Seite A-1270 (Zu dem Beitrag "Aus philosophischer Sicht: Medizin in Zeiten knapper Ressourcen" von Prof. Dr. phil. Otfried Höffe in Heft 5/1998:)
SPEKTRUM: Leserbriefe

Daß die einheitsstiftende Sprache des Griechischen benutzt wird, war mir große Freude. Daß das Thema Ressourcenknappheit damit zu tun haben sollte, ist dagegen völlig daneben. Als ob ein Grieche sich mit Endlichkeit der Natur, der physis, beschäftigt hätte. Das apeiron hat keine Grenzen, per definitionem.
Den Begriff der Tugend arte/virtus hätten Sie einführen können, wollten Sie aber lieber nicht. Das verstehe ich. Die Tugend besteht für den Stoiker im homologomenon zen. Vernunftgemäß zu leben heißt für den Stoiker, weder Sklave noch Tyrann zu sein. Und übrigens ist der Mensch von Natur aus tendenziell unersättlich? Da hätte Epikur auch etwas dazu zu sagen, zum Wesen der Wohlgemutheit.
Den Begriff der sophrosyne benutzte Platon für die Sklaven. Daß der moderne Arzt ein Sklave ist, haben Sie zwar vergessen zu erwähnen, aber unbewußt doch suggeriert. Dem freien Herren stand nach Platon die dikaiosyne besser zu Gesicht. Nach diesem proton pseudos habe ich mir erlaubt, den Text nicht zu Ende zu lesen. Schade, mit griechischer Philologie kann man auch viel Gutes, Wahres und Schönes tun.
Dr. med. Oliver Seemann, Schillerstraße 33/408, 80336 München

 

_____________________________________________________________________________________________

Gommann, Dr. med. R.

Medizinethik: Mehr öffentliche Diskussion

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 21 (22.05.1998), Seite A-1272 (Zu dem Beitrag "Aus philosophischer Sicht: Medizin in Zeiten knapper Ressourcen" von Prof. Dr. phil. Otfried Höffe in Heft 5/1998:)
SPEKTRUM: Leserbriefe

Vielen Dank für Ihren anregenden Beitrag "im Jahrzehnt der Verunsicherung". Der philosophische Vorschlag eines Paradigmenwechsels hin zur Besonnenheit in der Medizin ist sicherlich überfällig. Wenn er denn nur rasch über die Fachgesellschaften in Qualitätsstandards umgesetzt würde. Wenn sich dann auch noch der Berufsstand der Juristen zum Mithandeln entschließen würde. Wenn die Sozialpolitiker die notwendige Zivilcourage zur notwendigen Rahmenstrukturierung aufbringen würden.
Ich wünsche mir darüber nur noch eine öffentliche Diskussion, nicht nur im DÄ, sondern in den maßgeblichen, meinungsbildenden Medien, denn nur dann erleben wir im nächsten Jahrtausend das Zeitalter von Besonnenheit und Maß anstelle von Aggression ob des Scheiterns des allseits propagierten und ausgelebten Hedonismus.
Dr. med. R. Gommann, Voßstraße 49, 47574 Goch

 

_____________________________________________________________________________________________

Jessen, Dr. med. H. F.

Medizinethik: Markt der Besorgnis

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 21 (22.05.1998), Seite A-1268 (Zu dem Beitrag "Aus philosophischer Sicht: Medizin in Zeiten knapper Ressourcen" von Prof. Dr. phil. Otfried Höffe in Heft 5/1998:)
SPEKTRUM: Leserbriefe

Auf der Suche nach dem Halt in unserem Sein ist ein großer Markt (?) der Besorgnis entstanden, den es neu zu ordnen gilt. Dabei müssen alle Beteiligten einbezogen werden (auch die Pharmazie und die Pharmaindustrie). Eine Unterteilung der Märkte, das heißt eine Abgrenzung vom Markt der Notwendigkeit und vom Markt der Begierde, wäre vielleicht ein Weg der Innovation, die Hinterfragung von Markt schon eine Richtung?
Dr. med. H. F. Jessen, Gleiwitzstraße 271, 44328 Dortmund

 

_____________________________________________________________________________________________

Mahler, Klaus

Medizinethik: Fehlverwendung von Milliarden

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 21 (22.05.1998), Seite A-1270 (Zu dem Beitrag "Aus philosophischer Sicht: Medizin in Zeiten knapper Ressourcen" von Prof. Dr. phil. Otfried Höffe in Heft 5/1998:)
SPEKTRUM: Leserbriefe

Es gibt keine Ressourcenknappheit, sondern eine "Fehlverwendung", sprich eine Unterschlagung von 100 Milliarden DM der mehr als 250 Milliarden DM GKV-Beiträge (das hat Norbert Jachertz höchstpersönlich unwidersprochen im DÄ beschrieben), die vom mit 2,2 Billionen DM überschuldeten Staat (das ist so viel, als hätte Theo lang vor dem Bau der ägyptischen Pyramiden jeden Tag eine Million DM Schulden gemacht) heimlich betrieben wird!
Wirkliche "Besonnenheit": die durch Zins und Zinseszins sich selbst alimentierenden leistungslosen Einkommen der Gesamtheit der Kapitaleigner führten seit 1961 in exponentiell steigenden Wachstumsraten ganz automatisch zur "Pleonexie" beziehungsweise repräsentierten diese. Und die leistungslos über die Zinsdynamik in immer kürzeren Zeitabständen wachsenden Geldvermögen beanspruchen einen immer größeren Anteil am Sozialprodukt, nicht die Gesundheits-Konsumhaltung, Sie blinder Seher! Es sind nicht die bösen Menschen, die habgierig sind.
Klaus Mahler, Preußenallee 34, 14052 Berlin

 

_____________________________________________________________________________________________

Fulda, Dr. med. Ulrich E.

Medizinethik: Endlich Klartext

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 21 (22.05.1998), Seite A-1270 (Zu dem Beitrag "Aus philosophischer Sicht: Medizin in Zeiten knapper Ressourcen" von Prof. Dr. phil. Otfried Höffe in Heft 5/1998:)
SPEKTRUM: Leserbriefe

Der Aufsatz von Herrn Prof. Höffe tut richtig gut: endlich mal einer, der, wenn auch sehr elegant formuliert, Klartext spricht!
Sein Modell mit Grund-, Aufbau- und Abrundungsstufe habe ich vor Jahren bereits vertreten. Meine Begriffe sind dem Kfz-Wesen entliehen und lauten Haftpflicht (wie der Name sagt, verpflichtend, muß jeder abschließen), Teilkasko (wenn’s etwas mehr sein darf) und Vollkasko (für die Reichen; paßt zur entsprechenden Mentalität). Allerdings war dies lange Zeit nicht salonfähig, da sofort ein Aufschrei ob einer Zwei-KlassenMedizin die Szene erschütterte. Dabei weiß doch jeder, daß es diese schon immer gegeben hat, heute gibt und auch morgen geben wird - vielleicht sogar deutlicher als je zuvor, da die Schere zwischen Reich und Arm in Deutschland zunehmend weiter aufgeht.
Nun bin ich gespannt, wann die Politik diese Gedanken aufgreift und umsetzt. Wetten, daß dies nicht vor dem 27. September der Fall sein wird?
Dr. med. Ulrich E. Fulda, Talstraße 29, 51399 Burscheid

 

_____________________________________________________________________________________________

Laux, Dr. med. Peter

Medizinethik: Anmerkungen

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 21 (22.05.1998), Seite A-1268 (Zu dem Beitrag "Aus philosophischer Sicht: Medizin in Zeiten knapper Ressourcen" von Prof. Dr. phil. Otfried Höffe in Heft 5/1998:)
SPEKTRUM: Leserbriefe

Wieso ist Aristoteles ein Befürworter des nutzenfreien Wissens? Auch wenn der Nutzen für ihn nicht wie zum Beispiel beim Eklektiker Cicero an oberster Stelle einer Werteskala liegt, weisen seine praktische Philosophie und sein Strebensmodell auf eine Ergebnis- und Nutzenorientierung hin. "Die höchsten Tugenden müssen die sein, die für die anderen am nutzbringendsten sind, wenn anders die Tugend eine Kraft des Wohltuns ist." "Die im Mannesalter werden ersichtlich zwischen beider stehen . . . Und ohne nur dem Edlen oder nur dem Nutzen zu leben, sondern beidem gerecht werdend . . ."
Ich glaube nicht, daß die Vorschläge auf Dauer greifen, wenn nicht systematisch eine Änderung der Grundeinstellung weiter Bevölkerungsschichten erreicht wird. Helfen kann eine Schule der Philosophie und Rhetorik, die allen oder einem großen Teil der Bevölkerung regelmäßig und in ausgedehnterem Maß als heute zuteil wird. Sie muß Pflicht werden in Schule und Studium. Dabei sollte das Prinzip von Theorie und Praxis, Lehre und Übung unbedingt eingehalten werden. So gibt es eine Chance, die Anzahl derjenigen an den Schaltstellen der Macht in Politik und Unternehmen zu reduzieren, die "das Recht der Gemeinde von sich aus verlachen, vor dem Studium der Philosophie gar und den Lehren der Weisen im Innersten zurückschrecken".
Literatur beim Verfasser
Dr. med. Peter Laux, Rosengarten 11, 76228 Karlsruhe

 

 

Versorgung unter Budgetzwang - Die Krimmel-Debatte

 

Krimmel, Lothar

Ambulante Versorgung unter Budgetzwang: Was ist "medizinisch notwendig"?

in: Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 1-2 (06.01.1997), Seite A-20
POLITIK: Aktuell

In Zeiten unbegrenzter finanzieller Ressourcen waren die Begriffe "ärztlich empfehlenswert" und "medizinisch notwendig" weitgehend deckungsgleich. Angesichts der Mittelverknappung und stringenten Budgetierung verengt sich der Ermessensspielraum des Arztes jedoch zusehends. In dem folgenden Beitrag stellt Dr. med. Lothar Krimmel, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, dar, wie die Ökonomie den Leistungsanspruch bestimmt. Die Budgetierung führt seiner Ansicht nach zwangsläufig in eine Zwei-Klassen-Medizin - mit dem Arzt in der aufgezwungenen Rolle des Rationierers.


Derzeit taucht in der Diskussion um die Arzneimittel- und Heilmittelbudgets in der gesetzlichen Krankenversicherung immer wieder ein Begriff auf, der insbesondere auf Politiker und Kassenfunktionäre eine geradezu magische Anziehungskraft auszuüben scheint: die "medizinische Notwendigkeit". Es handelt sich dabei um einen der zahlreichen unbestimmten Rechtsbegriffe des Sozialgesetzbuches, die einen weiten Interpretationsspielraum eröffnen und daher geradezu prädestiniert sind, von verschiedenen Seiten für die jeweils eigenen Vorstellungen instrumentalisiert zu werden. Kaum wurde von Ärzteseite angedeutet, daß das von den Kassen provozierte Einfrieren der Arzneimittelbudgets auf dem Stand von 1991 unweigerlich in eine Rationierung münden müsse, wurde von Krankenkassen und Politikern die bekannte Leerformel bemüht: "Alles, was medizinisch notwendig ist, muß auch auf Kassenrezept verordnet werden!" Angesichts der ungeheuren Komplexität der modernen Medizin ziehen sich offensichtlich gerade Politiker und Kassenfunktionäre nur allzu gerne auf diese scheinbar stabile Plattform im unruhigen Meer medizinischer Versorgungsvielfalt zurück. Die Frage ist nur: Was ist "medizinisch notwendig"?
Der entscheidende Ansatz für das Verständnis der "medizinischen Notwendigkeit" in einer gesetzlichen Krankenversicherung liegt in der Erkenntnis, daß der Variations- und Interpretationsspielraum unmittelbar abhängig ist von den jeweils herrschenden ökonomischen Bedingungen, insbesondere also der Finanzkraft des Gesundheitsversorgungssystems. Dabei besteht diese Abhängigkeit der Behandlungsspielräume von den finanziellen Ressourcen gleich in doppelter Hinsicht: sowohl hinsichtlich der Definition des Umfangs der ethisch gebotenen Maßnahmen als auch in bezug auf den Ermessensspielraum des Arztes jenseits dieser Grenze ethisch gebotener Maßnahmen.
So ist beispielsweise der Einsatz von Chemotherapeutika bei Leukämie in den meisten Entwicklungsländern aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen schlichtweg nicht darstellbar. In Osteuropa ist aus denselben Gründen die in Deutschland selbstverständliche Dialyse bei Hochbetagten faktisch nicht verfügbar, und auch hierzulande muß die Grenze der ethischen Vertretbarkeit einer Verweigerung von Behandlungsansätzen unter dem Budgetdruck des Jahres 1996 enger gezogen werden als unter den größeren finanziellen Spielräumen des Jahres 1992.
Die teilweise völlig insuffizienten KV-bezogenen Arzneimittel- und Heilmittelbudgets können sogar so gering sein, daß sie noch nicht einmal den Leistungsanspruch innerhalb der Grenzen des ethisch Unverzichtbaren und damit auch medizinisch zwingend Notwendigen abdecken (zum Beispiel Mecklenburg-Vorpommern im Herbst 1996). Allerdings sind die Kassenärzte auch in dem Fall, daß aufgrund der Verordnung medizinisch zwingend notwendiger Arznei- und Heilmittel eine Budgetüberschreitung droht, zur Verordnung dieser Maßnahmen verpflichtet. Hier entpuppt sich die Budgetierung vollends als verfassungswidrige Zwangsabgabe des Kassenarztes zur Mitfinanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung. In budgetierten Systemen noch bedeutsamer sind die Einschränkungen des Ermessensspielraums des Arztes. Dabei wird zunächst offensichtlich, daß die nach dem Gebot ärztlicher Ethik notwendigen Leistungen mit dem Begriff der "zwingenden medizinischen Notwendigkeit" übereinstimmen. Jenseits dieser Grenze beginnt der Ermessensspielraum, der insoweit auch unmittelbar den Umfang des Leistungsanspruchs des Versicherten definiert. Je geringer der finanzielle Spielraum eines Versorgungssystems ist, desto näher muß die Interpretation der "medizinischen Notwendigkeit" an die Grenze der "zwingenden medizinischen Notwendigkeit" im Sinne ethisch gebotener Maßnahmen rücken.

Billigstes Generikum ist ausreichend
Ist zum Beispiel die Verordnung eines bestimmten Wirkstoffs medizinisch notwendig und wählt der Arzt unter mehreren wirkstoffgleichen Arzneimitteln das billigste aus, so hat der Versicherte nur Anspruch auf dieses billigste Arzneimittel. Wünscht der Versicherte dagegen ein teureres Präparat - etwa weil er das im Krankenhaus verabreichte Arzneimittel nicht wechseln möchte -, so ist der Arzt angesichts einer fehlenden zwingenden medizinischen Notwendigkeit nicht verpflichtet, dieses vom Versicherten gewünschte, teurere Arzneimittel zu verordnen. Ein weiteres Beispiel für die Abhängigkeit der "medizinischen Notwendigkeit" von den verfügbaren Finanzressourcen eines Gesundheitssystems gibt die Diskussion um den Einsatz neuer Arzneimittelwirkstoffe in solchen Bereichen, in denen bereits therapeutische Möglichkeiten bestehen. Ist zum Beispiel die Verordnung eines neuartigen Arzneimittels, das nur einmal statt dreimal täglich eingenommen werden muß, dafür jedoch mehr als doppelt so teuer ist wie die für dieselbe Indikation bereits eingeführte Substanz, tatsächlich "medizinisch zwingend notwendig"? Steht also der größere Anwendungskomfort des Arzneimittels in einem angemessenen Verhältnis zum deutlich erhöhten Ressourcenverbrauch? Dies sind die Kernfragen gesundheitsökonomischer Überlegungen, die sich mit dem sogenannten "Grenznutzen" medizinischer Behandlungsverfahren beschäftigen. Dabei sind solche Überlegungen keineswegs unethisch. Im Gegenteil: In budgetierten und damit rationierten Gesundheitssystemen wie der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung des Jahres 1996 geben Grenznutzen-Analysen wichtige Hinweise für die Verlagerung von Finanzmitteln in Bereiche mit höherem Kosten-Nutzen-Verhältnis. Auf diese Weise können in einem budgetierten Gesundheitssystem Rationierungsüberlegungen gerade auch ethisch begründet und legitimiert sein. Andererseits können solche Analysen auch Bereiche aufzeigen, in denen angesichts eindeutig belegter Effizienzsteigerungen Budgetanhebungen erforderlich sind. Die Durchsetzung des Prinzips der "Therapiefreiheit" des Arztes setzt angesichts der Dynamik des medizinischen Fortschritts und der demographischen Entwicklung ein finanziell weitgehend unbegrenztes Gesundheitswesen voraus. Im Korsett einer budgetierten gesetzlichen Krankenversicherung ist dagegen für die Ärzteschaft die Durchsetzung dieses Prinzips derzeit nur um den Preis der Existenzgefährdung (Budgethaftung!) möglich.
Auch die betroffenen Zweige der Gerichtsbarkeit, namentlich die Zivil- und Sozialgerichte, die in der Vergangenheit durch eine immer extensivere Auslegung der Versicherten- und Patientenansprüche die existentielle Krise der gesetzlichen Krankenversicherung mitverursacht und damit - ungewollt, aber dennoch wirkungsvoll - das Sozialstaatsprinzip in Frage gestellt haben, werden umdenken müssen. Entscheidungen in Einzelfragen werden künftig immer zu berücksichtigen haben, ob nicht diese Entscheidung die offensichtlich abnehmende Finanzkraft des Gesundheitssystems überfordert und damit zum Zusammenbruch dieses Versorgungssystems - mit unabsehbaren Folgen für alle Beteiligten - beitragen wird.


Zwei-Klassen-Medizin als Budgetfolge
Auch wenn diese Zusammenhänge ganz unzweideutig Aspekte einer Rationierung und damit einer "ZweiKlassen-Medizin" aufweisen, so sollte gerade angesichts des übergeordneten Ziels eines Erhalts der solidarischen Krankenversicherung hier nicht vergessen werden: Die unterschiedliche Verteilung der Bedürfnisse und insbesondere die unterschiedliche Beurteilung des Stellenwertes der eigenen Gesundheit gehören zu den Grunderfahrungen unserer Gesellschaft. Wäre dem nicht so, gäbe es keine Raucher, keine Alkoholiker, keine Drachenflieger und auch keine Rennfahrer. Auch müßte die Illusion einer völligen Gleichverteilung von Gesundheitsgütern letztlich beispielsweise in die Forderung münden, wegen der erwiesenen Einkommensabhängigkeit von Gesundheitszustand und Lebenserwartung allen Bürgern ein Mindesteinkommen von zum Beispiel 5 000 DM zu garantieren.


Politik muß Farbe bekennen
Um diesen Sachverhalt auch sprachlich zur Geltung zu bringen, ist der angesichts strikt limitierter Finanzmittel unbrauchbare, da unscharfe Begriff der "medizinischen Notwendigkeit" zu trennen in "medizinisch zwingend notwendig" (als Synonym für den nicht weiter disponiblen Anspruch auf "Kernleistungen" in der gesetzlichen Krankenversicherung) und "ärztlich empfehlenswert" (jedoch nicht medizinisch zwingend notwendig) auf der anderen Seite (siehe Grafik). In Zeiten unbegrenzter finanzieller Ressourcen waren die Begriffe "ärztlich empfehlenswert" und "medizinisch notwendig" weitgehend deckungsgleich. Deswegen geht der Vorwurf von Politik und Krankenkassen, die tatsächlich erzielbaren Einsparungen zeigten, daß die Kassenärzte in der Vergangenheit zuviel medizinisch nicht Notwendiges verordnet hätten, vollständig in die Irre. Hierbei wird der Ermessensspielraum in der Abgrenzung zwischen der ärztlich empfehlenswerten und der medizinisch (zwingend) notwendigen Behandlung schlichtweg übersehen. Diese Darstellung zeigt auch, daß es letztlich nicht angehen kann, in einer gesetzlichen Krankenversicherung mit mehr als 70 Millionen Versicherten den Umfang des Leistungsanspruchs dieser Versicherten jenseits des medizinisch unbedingt Notwendigen ganz in das Ermessen des einzelnen Arztes zu stellen. Für die Ärzteschaft ist es inakzeptabel, daß ihr in dieser "Grauzone" des ärztlich Empfehlenswerten jenseits der zwingenden Notwendigkeit die Rolle des "Rationierers" aufgebürdet werden soll - eine Rolle, welche die Patient-ArztBeziehung als den Eckpfeiler jedes Gesundheitssystems massiv gefährdet. Ungeachtet der ethischen Dimension eines solchen permanenten Triage-Konflikts ist diese Aufgabe für den Arzt auch deswegen unerfüllbar, weil die von der Politik gesetzten Rahmenbedingungen absolut kontraproduktiv sind. Der Wettbewerb der Krankenkassen, die "Chipkarten-Souveränität" des Patienten und nicht zuletzt der Wettbewerb der Ärzte untereinander müssen dazu führen, daß die von Politik und Krankenkassen in diesem Segment postulierten Wirtschaftlichkeitsreserven vorläufig reine Luftbuchungen bleiben. Die Gesundheitspolitik ist in dieser Situation gefordert, eindeutige leistungsrechtliche Vorgaben zu machen, was außerhalb einer medizinisch unbedingt notwendigen Versorgung weiterhin von den Krankenkassen finanziert und was definitiv ausgeschlossen werden soll. Fliehen die politisch Verantwortlichen dagegen weiterhin in die Illusion der vermeintlichen Ordnungskraft des Kriteriums der "medizinischen Notwendigkeit" und bleiben die leistungsrechtlichen Unklarheiten unter massiven Budgetzwängen auf diese Weise bestehen, so droht das Versorgungssystem in kürzester Zeit in einem Sumpf von Risikoselektion, Erpreßbarkeit und Günstlingswirtschaft unterzugehen.
Politik und Krankenkassen müssen endlich zur Kenntnis nehmen, daß sie gerade mit der Einführung der Budgetierung selbst maßgeblich dazu beigetragen haben, daß nicht mehr alles, was ärztlich empfehlenswert ist, den gesetzlich Krankenversicherten zur Verfügung gestellt werden kann. Die Metapher von der "medizinischen Notwendigkeit", die in jüngster Zeit gerade von Politik und Krankenkassen offensichtlich wieder einmal als "Nasenring" mißbraucht werden soll, um daran den Kassenarzt wie einen Tanzbär in der Arena des Gesundheitswesens vorzuführen, hat für diesen Zweck endgültig ausgedient.
Dr. med. Lothar Krimmel
KBV, Herbert-Lewin-Straße 3
50931 Köln

_____________________________________________________________________________________________

Schmitt-Tecklenburg, Wolfgang

Budgetierung: Wenig Sachverstand

in: Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 11 (14.03.1997), Seite A-628 (Zu dem Beitrag "Ambulante Versorgung unter Budgetzwang: Was ist ,medizinisch notwendig'?" von Dr. med. Lothar Krimmel in Heft 1-2/1997)
SPEKTRUM: Leserbriefe

. . . Wer mit dem Hinweis auf das gesellschaftliche Phänomen der unterschiedlichen "Beurteilung des Stellenwertes der eigenen Gesundheit" Alkoholiker in einem Satz mit Drachenfliegern und Rennfahrern nennt, hat offensichtlich immer noch nicht realisiert, daß Alkoholabhängigkeit eine schwere psychische Erkrankung ist (übrigens die zweithäufigste nach Depressionen) und nicht mit eigener Risikoabschätzung zu tun hat.
Es ist schon ärgerlich genug, daß die Medien wenig sensibel und eher sensationell alljährlich den neuerlichen deutschen "Weltrekord" im Pro-Kopf-Alkoholkonsum vermelden. Wenn nun auch Mediziner in einem Fachorgan den Herren nach dem Mund reden, die den Konsum von Alkohol tolerieren und fördern, die Opfer, nämlich die Erkrankten, aber in eine selbstverschuldete Ecke stellen, beweisen sie wenig Sachverstand . . .
Wolfgang Schmitt-Tecklenburg, Arbeitskreis Alkohol in der Freien Hansestadt Bremen, Osterdeich 63, 28203 Bremen

 

_____________________________________________________________________________________________

Budgetierung: Untauglicher Begriff

in: Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 11 (14.03.1997), Seite A-626 (Zu dem Beitrag "Ambulante Versorgung unter Budgetzwang: Was ist ,medizinisch notwendig'?" von Dr. med. Lothar Krimmel in Heft 1-2/1997)
SPEKTRUM: Leserbriefe

. . . Mir scheint, der Begriff ist insgesamt untauglich, um eine Grenze zu markieren, hinter die wir unter keinen Umständen zurückgehen wollen. Dieser Begriff geht von einem ethischen Konsens im Sinne eines Axioms aus. Es gibt diesen Konsens nicht, er ist natürlich auch kein Axiom. Das Leben des Menschen steht vielfältig zur Disposition, auch in unserer Gesellschaft . . . Wenn ich einen dementen Parkinson-Patienten so weit medikamentös einstelle, daß seine alte Ehefrau die Handgriffe der täglichen Pflege verrichten kann, kann man das, ist die Ethik erst aus dem Elfenbeinturm, mit gleicher Berechtigung als "medizinisch zwingend notwendig" oder als "therapeutischen Luxus" bezeichnen. Die Richtschnur für die Formulierung steht in "Abhängigkeit der Behandlungsspielräume von den finanziellen Ressourcen". In der Situation in Hessen im Herbst 1996 durfte ich diese Behandlung noch als "medizinisch zwingend notwendig" durchführen, wofür ich froh und dankbar bin. Wenn für diese nicht unbeträchtlichen Kosten zum Beispiel ein jugendlicher Patient keinen Dialyseplatz bekommen hätte, sähe die Beurteilung fix anders aus, wie Sie in Ihrem Artikel ja auch skizzieren: Ab wann ist jemand "hochbetagt", so daß man "auch hierzulande . . . die Grenze der ethischen Vertretbarkeit einer Verweigerung von Behandlungsansätzen unter dem Budgetdruck des Jahres 1996 enger" ziehen muß als bisher? Wenn wir hoffen, daß wir irgendwann mit dem Rücken an der Wand stehen, so daß man uns nicht weiter zurückdrängen kann, irren wir! Wir sind nur Berater und verwalten so viel Kapital im Sinne der "Gesundheit", wie uns "der Versicherte" als Auftraggeber in die Hand gibt. Keinen Pfennig mehr.
Der Begriff "medizinisch dringend notwendig" erscheint vollständig untauglich, er ist die Wand, die unser Zurückgedrängtwerden nicht limitieren wird. Das ist furchtbar bitter. In Ihrem Artikel gebrauchen ja auch Sie das fürchterliche Wort "Triage". Ich kann sagen: "Das Ei ist faul", ich kann kein frisches legen. Ob eine ärztliche Ethikkommission Richtlinien für eine Hierarchie medizinischer Wirklichkeit aufstellen sollte? Ob wir einen "Preis-Leistungs-Katalog" entwikkeln? Vielleicht werden damit ohnehin bald die Krankenkassen anfangen . . .
J. D. Fuhr, Die Schmittenhöfe 25, 34537 Bad Wildungen
J. D. Fuhr

 

_____________________________________________________________________________________________

Budgetierung: Anonym

in: Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 11 (14.03.1997), Seite A-626 (Zu dem Beitrag "Ambulante Versorgung unter Budgetzwang: Was ist ,medizinisch notwendig'?" von Dr. med. Lothar Krimmel in Heft 1-2/1997)
SPEKTRUM: Leserbriefe

Die Redaktion veröffentlicht keine ihr anonym zugehenden Zuschriften, auch keine Briefe mit fingierten Adressen. Alle Leserbriefe werden vielmehr mit vollem Namen und voller Anschrift gebracht. Nur in besonderen Fällen können Briefe ohne Namensnennung publiziert werden - aber nur dann, wenn intern bekannt ist, wer geschrieben hat. DÄ